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Urteil des Gerichtes

Entscheidungsvorblatt

Aktenzeichen: LVG 4/06 Entscheidungsart: Urteil Entscheidung vom: 25.04.2007
Verfahrensart Kommunalverfassungsbeschwerde
entscheidungserhebliche Vorschriften LSA-Verf Art. 2 Abs 1
LSA-Verf Art. 2 Abs 3
LSA-Verf Art. 75 Nr 7
LSA-Verf Art. 81 Abs 1
LSA-Verf Art. 90
LSA-VerfGG § 2 Nr 8
LSA-VerfGG § 48
LSA-VerfGG § 49
LSA-VerfGG § 51
LSA-KreissitzG-AnhBitterfd
LSA-LEP
LSA-KomNeuglGrG § 6
LSA-LKGebNRG § 8
LSA-LKGebNRG § 12
Schlagworte Gebietsreform - Kreissitz - Landesentwicklungsprogramm - Raumordnung - Einwohnerzahl - System - Vergabesystem - Willkürverbot - Bindung - Kriterium - Ausnahme - Abweichung - Abwägung - Leitlinie - Oberzentrum - Mittelzentrum - Oberzentrum : Teilfunktion - Beschlussvorlage - Änderungsantrag - Fraktionszwang - Gebietsänderungsvertrag - Verkündung - Gemeinwohl - Planung, überörtliche - Interesse, überörtliches - Anhörung - Aufklärung - Systemgerechtigkeit - Verhältnismäß0igkeit - Bestandsschutz - Rechtsschutzinteresse - Auswirkung, faktische - Recht, eigenes - Rechtsreflex - Frist - Fristbeginn - Gegenwärtigkeit - Selbstverwaltungsrecht - Gemeindehoheit - Gemeinschaft, örtliche - Planungshoheit - Planungsentscheidung - Aufgabenbereich - Rechtsstaatsprinzip - Kreissitzbestimmung - Organisationsrecht - Sonderopfer - Darlegung - Abstimmung - Abgeordneter : Motiv - Kriterien-Bestandsschutz - Reformvorhaben, neues - Gestaltungsspielraum
Stichworte Urteil
Leitsatz 1. Bei einer umfassenden Gebietsreform, welche zu einer Zusammenlegung von Landkreisen führt, kann sich die übergangene bisherige Kreisstadt gegen die Auswahlentscheidung für die konkurrierende ehemalige Kreisstadt wenden (wie LVerfGE 2, 323 ff.). s. hierzu auch "Sondervotum" (ab RdNr. 119) 2. Anhörungs- und Sachaufklärungspflichten reichen nur so weit, wie der Gesetzgeber bei seiner Entscheidung Sachverhalte verwertet. 3. Liegt den Vergabeentscheidungen ein Kriterienkatalog zu Grunde, so kann von diesem nur aus sachlichem Grund abgewichen werden. 4. Die Bindung des Gesetzgebers durch ein solches „System“ wird nicht schon durch eine Begründung in dem Gesetzentwurf der Landesregierung bewirkt, sondern der Landtag selbst muss sich das „System“ zu eigen machen. Davon ist auszugehen, wenn die Beschlussvorlage des zuständigen Parlamentsausschusses auf diesem „System“ beruht und dann von der Mehrheit der Abgeordneten gebilligt wird. Das Landesverfassungsgericht ist nicht berechtigt, die Motive der einzelnen Abgeordneten zu erforschen.
Fundstellen noch nicht in LVerfG
Sonstiges -
Zitiervorschlag VerfGSA, Urteil vom 25.04.2007 - LVG 4/06 -,
www.verfassungsgericht-sachsen-anhalt.de

Urteil

in dem Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahren

LVG 4/06

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

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(Die grauen Ziffern über den Absätzen sind durchlaufende Absatznummern [Randnummern].)
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Tatbestand
{RN:1}
1. Die Beschwerdeführerin wurde nach § 12 Abs. 2 des Gesetzes zur Kreisgebietsreform vom 13.07.1993 (LSA-GVBl., S. 352) - LSA-KrsGebRefG -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 09.11.1995 (LSA-GVBl., S. 324), Kreissitz des nach § 12 Abs. 1 LSA-KrsGebRefG neu gebildeten Landkreises Bitterfeld; die Stadt Köthen blieb nach § 13 LSA-KrsGebRefG Kreissitz des im Bestand unveränderten Landkreises Köthen. Das damalige Reformgesetz trat zum 01.07.1994 in Kraft (§ 37 LSA-KrsGebRefG).

{RN:2}
Ein früheres Landesentwicklungsprogramm (Art. II des Vorschaltgesetzes zur Raumordnung und Landesplanung vom 02.06.1992 [LSA-GVBl., S. 390]) enthielt bereits die Kategorie „Mittelzentrum mit Teilfunktionen eines Oberzentrums“ (Nr. 2.1.), legte diese Einstufung für den Raum Bitterfeld/Wolfen fest und bestimmte dessen Zuordnung zum Oberzentrum Dessau (Nr. 2.1.9.). Das Nachfolgegesetz (Gesetz über den Landesentwicklungsplan - LSA-LEP - vom 23.08.1999 [LSA-GVBl., S. 244], zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.12.2005 [LSA-GVBl., S. 804]), das am 01.05.1999 in Kraft trat (Nr. 7 LSA-LEP), übernahm die Kategorie des Vorgängergesetzes (Nr. 3.2.1. LSA-LEP), unterschied aber bei der Einordnung, ob es sich bei der Teilfunktion um die Zuordnung für ein Oberzentrum handelte oder ob diese Eigenschaft wegen der „Lage im räumlichen Siedlungsgefüge“ bestehen solle (Nr. 3.2.11. LSA-LEP); der Raum Bitterfeld/Wolfen wurde bei der Teilfunktion mit Zuordnung zu Dessau geführt (Nr. 3.2.11. LSA-LEP).

{RN:3}
Die Gebietsreform vollzog sich in drei Stufen.

{RN:4}
Das Gesetz über die Grundsätze für die Regelung der Stadt-Umland-Verhältnisse und die Neugliederung der Landkreise - Kommunalneugliederungs-Grundsätzegesetz (LSA-KomNeuglGrG) - vom 11.05.2005 (LSA-GVBl., S. 254, 601) enthielt u. a. Grundsätze für die Neugliederung der Landkreise (§ 6).

{RN:5}
Durch § 8 Abs. 1 des Gesetzes zur Kreisgebietsneuregelung - LSA-LKGebNRG - vom 11.11.2005 (LSA-GVBl., S. 692), geändert durch Gesetz vom 19.12.2006 (LSA-GVBl., S. 544), werden - in der Ursprungsfassung des Gesetzes - die Landkreise Bitterfeld und Köthen mit Ablauf des 30.06.2007 (§ 23 Abs. 2 LSA-LKGebNRG) aufgelöst, und durch § 8 Abs. 2 LSA-LKGebNRG wird mit Wirkung vom 01.07.2007 (§ 23 Abs. 3 LSA-LKGebNRG) ein neuer Landkreis Anhalt-Bitterfeld gebildet.

{RN:6}
Wie in allen Neugliederungsfällen blieb die Regelung über den Kreissitz für den neuen Landkreis einem besonderen Gesetz vorbehalten (§ 12 Abs. 1 LSA-LKGebNRG).

{RN:7}
Im § 1 des zum 01.07.2007 in Kraft tretenden Gesetzes (§ 2) zur Bestimmung des Kreissitzes des Landkreises Anhalt-Bitterfeld vom 20.12.2005 (LSA-GVBl., S. 760), geändert durch Gesetz vom 19.12.2006 (LSA-GVBl., S. 544), heißt es: „Kreissitz des Landkreises Anhalt-Bitterfeld ... ist die Stadt Köthen.“

{RN:8}
Die Städte Bitterfeld und Wolfen sowie die Gemeinden Greppin, Holzweißig und Thalheim schlossen am 29.09.2005 einen Gebietsänderungsvertrag, der am 08.11.2005 von der Kommunalaufsicht genehmigt und am 25.11.2005 im Landkreisjournal des Landkreises Bitterfeld veröffentlicht wurde; er soll zum 01.07.2007 in Kraft treten.

{RN:9}
2. Ein erster Referentenentwurf, welcher dem Landrat des Landkreises Bitterfeld mit Schreiben vom 18.05.2005 zur Anhörung gegeben wurde, sah als Kreissitz des neuen Landkreises Anhalt-Bitterfeld die Stadt Bitterfeld vor, weil dafür die Einordnung als Mittelzentrum mit Teilfunktionen eines Oberzentrums spreche.

{RN:10}
Der Gesetzentwurf der Landesregierung für das Kreissitzgesetz Anhalt-Bitterfeld vom 29.06.2005 (LdTgDrs. 4/2234) sah demgegenüber Köthen als Kreissitz vor. In der allgemeinen Begründung ging die Landesregierung von folgenden Auswahlkriterien aus (Begründung, A. 2.):
 Die auszuwählende Stadt müsse bereits Kreisstadt gewesen sein.
 Wegen der Identifikationsmöglichkeit der Bürger mit dem Landkreis müsse dessen Sitz im Kreisgebiet liegen.
 Um leistungsstarke kommunale Strukturen zu schaffen, sollten bereits starke Gemeinden weiter gestärkt werden; maßgeblich sei deshalb auch die aktuelle Leistungsstärke; dabei sollten Gemeinden begünstigt werden, die bereits eine raumordnerisch hervorgehobene Stellung hätten; maßgeblich sei dafür die Stellung im System der zentralen Orte nach dem Landesentwicklungsplan; indessen sei bei der Kategorie „Mittelzentrum mit Teilfunktionen eines Oberzentrums“ zu unterscheiden, aus welchen Gründen einem Mittelzentrum diese Funktion zugesprochen worden sei; wesentlich sei, dass der Ort die Funktion wegen seiner eigenen Lage im Siedlungsgefüge habe.
Für den Fall der raumordnerischen Gleichwertigkeit sei auf die Einwohnerzahl zum 31.12.2004 abzustellen; allerdings sollten Gebietsneuordnungen, die sich bis zum Beschluss des Landtags vollzogen hätten (rechtskräftige Genehmigung, Bekanntmachung), berücksichtigt werden.
 Die künftige Kreisstadt dürfe keine gemeinsame Grenze mit einem Oberzentrum haben.
{RN:11}
Andere Kriterien zu verwenden, wurde in der Begründung abgelehnt. Maßgeblich dafür sei vor allem, dass die verworfenen Kriterien nicht hinreichend begriffsscharf seien. Keine Berücksichtigung fänden insbesondere die „Einwohnerdichte“, die „Zentralität“ oder „Erreichbarkeit“, die vorhandene „infrastrukturelle Ausstattung“, die „Wirtschaftskraft“, „Kostengesichtspunkte“ für den Betrieb der neuen Kreisverwaltung oder die „kulturelle Bedeutung“. Auch von einer Gewichtung der vier Kriterien werde abgesehen, weil diese mit „gegeben“ oder „nicht gegeben“ angewendet werden könnten.

{RN:12}
Im konkreten Fall behandelte die Vorlage Bitterfeld und Köthen als Mittelzentren und wählte Köthen über das Hilfskriterium der größeren Einwohnerzahl aus.

{RN:13}
Der Änderungsantrag mehrerer Abgeordneter vom 07.07.2005 (LdTgDrs 4/2291) sprach sich dagegen für Bitterfeld als neue Kreisstadt aus, weil für sie der höhere raumordnerische Rang spreche; aus welchen Gründen einem Mittelzentrum auch Teilfunktionen eines Oberzentrums zugewiesen würden, sei unerheblich.

{RN:14}
In der ersten Beratung vom 07.07.2005 stellte der Minister des Innern dem Landtag die Auswahlkriterien vor (LdTgStenBer 4/61 v. 07.07.2005, S. 4411). Der Abgeordnete Wolpert [FDP] unterstützte die Kriterien, weil sie zur Objektivierung der Entscheidung beitrügen, kritisierte aber die Ansicht der Landesregierung zur Handhabung der Mittelzentren mit Teilfunktionen eines Oberzentrums (a. a. O., S. 4417). Der Abgeordnete Dr. Polte [SPD] sprach sich gegen die engen Kriterien aus, welche z. B. die Berücksichtigung der Wirtschaftskraft einer Stadt nicht zuließen (a. a. O., S. 1418). Der Abgeordnete Kolze [CDU] stellte eine Prüfung der Kriterien in Aussicht (a. a. O., S. 4421).

{RN:15}
Die Gesetzentwürfe für alle Kreissitzvorlagen wurden an den Ausschuss für Inneres überwiesen (a. a. O., S. 4421).

{RN:16}
Dieser hörte in seiner Sitzung vom 21.09.2005 (Niederschrift zu TOP 2, Unterpunkt a, S. 15 f.) die Bürgermeister der Städte Bitterfeld und Köthen, die Landräte der Landkreise Bitterfeld und Köthen, dabei Prof. Dr. Turowski ergänzend für den Landkreis Bitterfeld sowie einen Vertreter der Zukunftsinitiative gemeinsame Stadt (sc. l.: Bitterfeld-Wolfen) an.

{RN:17}
In der Ausschuss-Sitzung vom 12.10.2005 (Niederschrift zu TOP 3, S. 17 ff.) erklärte der Abgeordnete Grünert [Linkspartei.PDS], seine Fraktion werde sich nur beim Sitz für den Landkreis Harz positionieren und sich im Übrigen der Stimme enthalten, weil sie das Konzept der Regionalkreise verfolge und sich an dem „Ranking“ der übrigen Kreissitze nicht beteiligen wolle (a. a. O., S. 18). Der Abgeordnete Rothe [SPD] erklärte, seine Fraktion befürworte ebenfalls das Regionalkreiskonzept, sehe die jetzige Kreisreform aber als einen Zwischenschritt dorthin an und werde deshalb die Abstimmung im Plenum freigeben (a. a. O., S. 18). Der Abgeordnete Wolpert [FDP] erklärte, seine und die CDU-Fraktion stimmten den Regierungsvorlagen ungeachtet der Änderungsanträge im Ausschuss zu und würden im Einzelnen bei der zweiten Beratung im Landtag entscheiden (a. a. O., S. 19).

{RN:18}
Für Anhalt-Bitterfeld empfahl der Ausschuss für Inneres entsprechend der Regierungsvorlage (mit sieben Stimmen bei sechs Enthaltungen) den Kreissitz Köthen (LdTgDrs 4/2455 v. 02.11.2005).

{RN:19}
Mehrere Abgeordnete der CDU und der FDP sprachen sich für Bitterfeld als Kreissitz aus (LdTgDrs 4/2487 v. 09.11.2005).

{RN:20}
In der zweiten Beratung (LdTgStenBer 4/67 v. 10.11.2005, S. 4757 ff.) führte der Minister des Innern aus, jede der aktuellen Kreisstädte sei grundsätzlich geeignet, Sitz des neuen Kreises zu werden; vor diesem Hintergrund komme es elementar auf die Kriterien an. Dabei sei den landesplanerischen Zielen über die Entwicklung der Orte zu folgen; dazu gehöre auch die Wertung, große Kommunen weiterhin und vorrangig zu stärken. Die wirtschaftliche Bedeutung der Kreissitzentscheidung werde häufig überschätzt (a. a. O., S. 4761). Der Abgeordnete Rothe [SPD] teilte mit, seine Fraktion habe den Fraktionszwang aufgehoben, weil die jetzigen Kreise, für welche die Sitze festgelegt würden, nicht ihre Kreise seien. Klar sei, dass sich Abgeordnete für ihre Region und ihre Kreisstadt einsetzten, die nicht selten ihre Heimatstadt sei. Aus legitimen lokalen Interessen werde der Willensbildungsprozess im Parlament mitgestaltet. Die von der Landesregierung vorgegebenen Kriterien seien unzureichend und müssten in einer starren Weise angewendet werden (K.o.-Prinzip); sachgerechter sei es, mehr Kriterien zuzulassen und eine einzelfallbezogene Abwägung zu erlauben. Dabei komme der Wirtschaftlichkeit der Unterbringung besonderes Gewicht zu (a. a. O., S. 4762). Natürlich seien auch Wirtschaftskraft und Erreichbarkeit für die Kreisbevölkerung wichtig. Alle Abgeordneten fühlten sich frei, alle relevanten Kriterien zu berücksichtigen und verantwortlich frei zu entscheiden; das sei auch mit Emotionen verbunden (a. a. O., S. 4763). Der Abgeordnete Wolpert [FDP] entgegnete, die Kriterien der Regierungsvorlage seien zwar umstritten; sie seien aber im Wesentlichen in sich schlüssig und eine objektive Grundlage für die Entscheidung. Es gebe keinen Änderungsvorschlag. Die FDP-Fraktion habe die Abstimmung freigegeben; denn es gehe zwar um eine raumordnerische Entscheidung, dies aber nicht ausschließlich. Mit der Abstimmung seien starke Emotionen verbunden; dazu gehörten Heimatgefühl, lokale Verbundenheit und auch Lokalpatriotismus. Dieser sei allerdings selten ein guter Leitfaden für landespolitische Entscheidungen. Im Landesinteresse müsse vor allem eine Entscheidung der Verantwortlichen vor Ort vermieden werden (a. a. O., S. 4764). Der Abgeordnete Gallert [Linkspartei.PDS] führte aus: Seine Fraktion habe das Ziel, Regionalkreise zu bilden; deshalb könne und wolle sie sich nicht in die Kreisstadtentscheidungen hineinbegeben (Ausnahme: Landkreis Harz). Das Koalitionskonzept mache einen wichtigen Konstruktionsfehler deutlich: es gebe zu viele Mittelzentren (a. a. O., S. 4765). Man könne sich zwar über die Kriterien der Landesregierung aufregen; aber sie habe wenigstens welche, die Koalition habe offensichtlich keine. Vor diesem Hintergrund wisse man nicht, was bei der Abstimmung herauskomme. Für die Betroffenen werde kein Kriterienkatalog mehr deutlich. Hier habe der Landtag versagt (a. a. O., S. 4766). Es gebe keinen Fraktionszwang. Wenn jemand aus seinem Heimatgefühl heraus sage, er könne die Vorlage nicht akzeptieren, dann habe er eine Chance. Derjenige mit den besseren Connections bekomme die Mehrheit; das werde das Problem sein (a. a. O., S. 4767). Der Abgeordnete Kolze [CDU] erwiderte, der Kriterienkatalog der Landesregierung besteche durch seine Einfachheit. Die Fraktion habe die Abstimmung aber angesichts der vielen Änderungsanträge freigegeben und wolle sich nicht sklavisch an die Kriterien binden lassen. Der Gesetzgeber habe einen weiten Beurteilungsspielraum und könne trotz eines Systems im Einzelfall Ausnahmen zulassen. Die Abgeordneten seien gefordert, nicht nur Partikularinteressen vor Ort zu berücksichtigen, sondern eine Entscheidung im Landesinteresse zu treffen (a. a. O., S. 4768).

{RN:21}
In der speziell auf das Kreissitzgesetz für Anhalt-Bitterfeld bezogenen Diskussion sprach sich der Abgeordnete Wolpert [FDP] für Bitterfeld als Kreissitz aus, weil dafür die Teilfunktionen eines Oberzentrums als höhere Kategorie sprächen (a. a. O., S. 4769). Der Abgeordnete Dr. Sobetzko [CDU] hielt Köthen für die richtige Entscheidung, weil diese Stadt die Kriterien der Landesregierung erfülle. Auf die oberzentrale Teilfunktion könne sich Bitterfeld nicht berufen, weil diese nur in Bezug auf Dessau bestehe. Bei der Einwohnerzahl könne die Fusion Bitterfelds mit Wolfen noch nicht berücksichtigt werden, weil diese erst im Jahr 2007 wirksam werde (a. a. O., S. 4770). Köthen sei die bessere Kreisstadt, meinte der Abgeordnete Kehl [FDP] und schloss sich der Argumentation des Abgeordneten Dr. Sobetzko an. Der Abgeordnete Zimmer [CDU] entgegnete, mit der Bildung der Stadt Bitterfeld-Wolfen übererfülle Bitterfeld die Kriterien der Landesregierung (a. a. O., S. 4771).

{RN:22}
Der Änderungsantrag, Bitterfeld zum Kreissitz zu erheben, fand keine Mehrheit (39 gegen 42 Abgeordnete [a. a. O., S. 4771]). Die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres wurde daraufhin mit Mehrheit angenommen (a. a. O., S. 4771).

{RN:23}
3. Die Beschwerdeführerin hat am 22.08.2006 Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie rügt die Verletzung ihres Selbstverwaltungsrechts durch die gesetzliche Bestimmung des Kreissitzes Köthen im Gesetz vom 20.12.2005 (LSA-GVBl., S. 760) und macht geltend:

{RN:24}
Die Bestimmung des Kreissitzes sei zwar einem besonderen Gesetz vorbehalten gewesen, sie sei jedoch notwendiger Bestandteil der Neugliederung von Kreisen und damit eines einheitlichen Gründungsakts. Die Verfassungsbeschwerde sei deshalb auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Landesverfassungsgerichts zulässig. Sie sei auch begründet.


{RN:25}
In Anwendung der Kriterien für die Kreissitzvergabe sei zunächst sie, die Beschwerdeführerin, ausgewählt worden; unverständlicherweise habe im späteren Gesetzentwurf der Landesregierung Köthen den Zuschlag erhalten. Dass die Funktion der oberzentralen Aufgaben für ein bestimmtes Oberzentrum später nicht mehr berücksichtigt worden sei, beziehe sich allein auf den Fall Bitterfeld/Köthen. Die Entscheidung für Köthen sei nicht durch Gründe des allgemeinen Wohls gerechtfertigt, verletze das gesetzliche Leitbild und die selbst gesetzten Leitlinien, welche auf die Leistungsstärke und eine „Stärkung der Stärksten“ abstellten.

{RN:26}
Beim Verlust des Kreissitzes sei mit tiefgreifenden strukturellen Veränderungen zu rechnen, welche eine deutliche Einbuße von Finanzkraft und damit der Leistungsfähigkeit mit sich brächten. Es sei nicht gesichert, dass Nebenstellen dauerhaft in Bitterfeld erhalten blieben. Nachgeordnete Behörden würden in der Regel in der (neuen) Kreisstadt zentriert, wie die Erfahrung lehre (Holtmann/Killisch/Steinhart/Tullner, Empirische Untersuchungen in fünf Landkreisen, Halle 1997). Der Weggang des Behördenpersonals führe zu einem erheblichen Verlust an Kaufkraft. Die Eigenschaft, Kreisstadt zu sein, habe Auswirkungen auf Ansiedlungsentscheidungen der privaten Wirtschaft. Einen Ausgleich habe der Gesetzgeber nicht vorgesehen.

{RN:27}
In Anwendung der aufgestellten Kriterien gebühre ihr, der Beschwerdeführerin, aus Gründen der Raumordnung der Vorzug; denn sie sei anders als Köthen nicht lediglich Mittelzentrum, sondern habe Teilfunktionen eines Oberzentrums und deshalb die höhere zentralörtliche Bedeutung. Der Gesetzgeber habe insoweit wesentliche Aspekte sachfremd aus seiner Entscheidung ausgeblendet und deshalb willkürlich systemwidrig gehandelt. Entgegen dem durch die Raumordnung vorgegebenen Katalog sei bei den Teilfunktionen eines Oberzentrums willkürlich unterschieden worden, aus welchen Gründen die Teilfunktion bestimmt worden sei. Dies widerspreche der Begründung zum Landesentwicklungsplan; danach komme es neben der räumlichen Lage gerade auch auf das zu entwickelnde Potenzial zur Wahrnehmung oberzentraler Funktionen an. Außerdem erfülle sie, die Beschwerdeführerin, selbst die typischen Voraussetzungen für eine oberzentrale Einordnung bei den Versorgungseinrichtungen. Deshalb sei auch unbeachtlich, dass die Festsetzung den Raum Bitterfeld-Wolfen betreffe.

{RN:28}
Unabhängig davon habe der Gesetzgeber beim Hilfskriterium der Einwohnerzahl - das im Übrigen als nicht geeignet angesehen werden könne, um die Leistungsfähigkeit angemessen zu bestimmen - nicht berücksichtigt, dass vertraglich zum 01.07.2007 eine neue Stadt Bitterfeld-Wolfen gebildet worden sei, welche (dann) einwohnerstärker sei als Köthen.

{RN:29}
Außerdem sei verkannt worden, dass schon gegenwärtig eine Einwohnerverdichtung im Bereich Bitterfeld/Wolfen bestehe; dieses Kriterium müsse zusätzlich berücksichtigt werden, wenn man bei gleicher raumordnerischer Zuordnung ersatzweise auf die Bevölkerungszahl abstelle.

{RN:30}
Jedenfalls habe der Gesetzgeber erneut über die Kreissitzfrage entscheiden müssen, nachdem das Anhalt-Bitterfeld-Gesetz geändert worden und mit dem Gebiet um Zerbst ein weiteres Mittelzentrum hinzugekommen sei. Zu diesem Zeitpunkt seien bereits alle Voraussetzungen (Vertragsschluss - Genehmigung - Bekanntmachung) erfüllt gewesen.

{RN:31}
Die Verengung der Kriterienzahl auf nur vier lasse aber auch keinen Wertungsspielraum zu. Der Gesetzgeber könne nicht mehr abwägen, sondern habe nur noch bürokratisch nach einem Ja-/Nein-Raster vorzugehen.

{RN:32}
Schließlich habe die Neugliederung 2005 den Inhalt der Kreisreform von 1993 nahezu völlig ausgeblendet. Gebietsreformen seien regelmäßig auf die Dauer von dreißig bis vierzig Jahren angelegt, so dass für Bitterfeld Bestandsschutz anzunehmen sei; jedenfalls dürften die Leitbilder nicht verändert werden. Im Jahr 1993 sei aber auf eine Gewichtung nach Größe und Wirtschaftskraft sowie auf die zentralörtliche Funktion abgestellt worden. Insoweit bestehe für das hier angegriffene Gesetz ein Ermittlungsdefizit.

{RN:33}
Aus Gründen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sei sie die „Beste“ und müsse schon deshalb „gestärkt“ und Kreissitz werden.

{RN:34}
Die Beschwerdeführerin beantragt,
festzustellen, dass § 1 des Gesetzes zur Bestimmung des Kreissitzes des Landkreises Anhalt-Bitterfeld vom 20. Dezember 2005 (LSA-GVBl., S. 760), geändert durch Gesetz zur Änderung der Kreisgebietsneuregelung vom 19. Dezember 2006 (LSA-GVBl., S. 644), mit dem in Art. 2 Abs. 3 und Art. 87 der Landesverfassung garantierten Recht auf kommunale Selbsterwaltung unvereinbar und nichtig ist, soweit es die Stadt Köthen und nicht die Stadt Bitterfeld zum Kreissitz bestimmt.

{RN:35}
4. Die Stadt Köthen begehrt die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde und macht dazu geltend:

{RN:36}
Die Verfassungsbeschwerde sei zwar zulässig, indessen unbegründet, weil sich der Gesetzgeber in Anwendung der von ihm aufgestellten und nicht zu beanstandenden Kriterien zu Recht für Köthen als Kreissitz entschieden habe. Bitterfeld komme schon deshalb nicht als Alternative in Betracht, weil es gar nicht mehr bestehen werde, wenn die Kreisreform in Kraft trete; denn es sei dann in der größeren Kommune Bitterfeld-Wolfen aufgegangen. Außerdem sei auch die raumordnerische Bedeutung nicht auf Bitterfeld als Stadt allein bezogen, sondern schon gegenwärtig auf Bitterfeld-Wolfen; diese Region sei aber nicht der bisherige Sitz des Kreises Bitterfeld. Abgesehen davon sei das Hilfskriterium der Einwohnerzahl zutreffend angewendet worden, weil die am 01.07.2007 entstehende Kommune angesichts des festgelegten Stichtags bei der Gesetzgebung über den Kreissitz nicht habe berücksichtigt werden dürfen.

{RN:37}
5.1. Der Landtag hat am 19.10.2006 beschlossen, keine Stellungnahme abzugeben.

{RN:38}
5.2. Die Landesregierung hält die Verfassungsbeschwerde bereits für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet und führt dazu aus:

{RN:39}
Die Beschwerde sei nicht zulässig, weil es an einer Beschwerdebefugnis fehle; denn die Bestimmung des Kreissitzes betreffe allein das Organisationsrecht des künftigen Landkreises Anhalt-Bitterfeld. Den „Kreissitz innezuhaben“, gehöre nicht zum Bestand einer Kreisstadt; es handele sich lediglich um rein faktische Auswirkungen der fremden Organisationsentscheidung über die Kreisreform. Soweit die Beschwerdeführerin Auswirkungen des Sitzverlustes auf ihre eigene Leistungsfähigkeit befürchte, fehle es an einem hinreichend konkretisierten Vortrag. Eine dauerhafte Leistungsfähigkeit werde zudem nach der Gemeindeordnung ab einer Einwohnerzahl von 8.000 gesetzlich vermutet; dies könne im Fall Bitterfeld schwerlich entkräftet werden.

{RN:401}
Die Beschwerde sei darüber hinaus auch unbegründet.

{RN:41}
Gründe des Gemeinwohls seien nicht Prüfungsmaßstab; denn es handele sich bei der Bestimmung des Sitzes für den künftigen Landkreis um keinen Eingriff in den Gebietsbestand der jetzigen Kreisstadt.

{RN:42}
Gegen die verbleibenden Schranken (Anhörungs- und Ermittlungspflicht, Willkürverbot, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Systemgerechtigkeit) sei nicht verstoßen worden. Insbesondere habe der Gesetzgeber für seine Entscheidungen ein sachgerechtes System entwickelt und sich an dieses auch im Fall der Beschwerdeführerin gehalten, diese sogar dadurch bevorzugt, dass Bitterfeld überhaupt mit Köthen verglichen worden sei; denn nicht Bitterfeld als Stadt, sondern der Raum Bitterfeld-Wolfen habe die Funktion eines Mittelzentrums, so dass zu Köthen in Wahrheit keine Alternative bestanden habe. Außerdem sei daran zu zweifeln, ob Bitterfeld nicht jedenfalls deshalb habe ausscheiden müssen, weil die künftige neue Stadt Bitterfeld-Wolfen nicht das Kriterium „bisherige Kreisstadt“ erfülle, das nur auf Bitterfeld allein zutreffe.

{RN:43}
Ganz abgesehen davon halte sich der Gesetzgeber an sein System, wenn er bei dem Merkmal „Teilfunktion eines Oberzentrums“ darauf abstelle, aus welchem Grund diese Teilfunktion zuerkannt worden sei. Anders als bei anderen Städten sei bei Bitterfeld nicht die eigenständige Stellung im Raum entscheidend gewesen, sondern allein die Teilfunktion für das Oberzentrum Dessau.

{RN:44}
Bei der Einwohnerzahl, welche die Leistungsfähigkeit einer Kommune mit beschreibe und deshalb als Hilfskriterium tauglich sei, werde in der Regel auf den Stichtag 31.12.2004 abgestellt; eine Ausnahme könne die Beschwerdeführerin nicht für sich in Anspruch nehmen, weil der Gebietsänderungsvertrag zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gesetzgebers noch nicht veröffentlicht gewesen sei. Deshalb habe von der Fusion noch keine Rechtswirkung ausgehen können, dies unabhängig davon, dass die Änderung erst zum 01.07.2007 in Kraft treten solle.

{RN:45}
Auf der Grundlage der vier Kriterien im Gesetzentwurf habe der Gesetzgeber den Sachverhalt umfassend ermittelt und diese mitgetragen. Weitere oder andere Kriterien habe er nicht berücksichtigen müssen, weil er einen politischen Gestaltungsspielraum habe und in der Auswahl der Kriterien frei sei; er sei insbesondere nicht gezwungen, Wertungen und Prognosen vorzunehmen.

{RN:46}
Damit erledigten sich die Einwände der Beschwerdeführerin in Bezug auf Verstöße gegen das Willkürverbot und das Gebot der Systemgerechtigkeit.

{RN:47}
Dem Vortrag zum Bestandsschutz könne nicht gefolgt werden. Angesichts des drastischen Bevölkerungsrückgangs habe das Land nach weniger Jahren als im Normalfall erneut das Ziel verfolgen müssen, leistungsfähige und effiziente Verwaltungsstrukturen zu schaffen.

{RN:48}
6. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Regierungsvorlage zum hier streitigen Kreissitzgesetz (LdTgDrs 4/2234), den Änderungsantrag mehrerer Abgeordneter dazu (LdTgDrs 4/2291), die Niederschriften über die beiden Beratungen der Kreissitzgesetze im Plenum (LdTgStenBer 4/61 und 4/67), die Niederschriften des befassten Ausschusses des Innern (vom 21.09. und vom 12.10.2005) und dessen Beschlussempfehlung (LdTgDrs 4/2455) sowie den Änderungsantrag dazu (LdTgDrs 4/2487) Bezug genommen.

{RN:49}
7. Die Beschwerdeführerin hat mit dem nach Durchführung der mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsatz vom 03.04.2007, auf den wegen der Einzelheiten verwiesen wird, den Begriff „Hilfsfunktion“ kritisiert und auf dem Begriff „Teilfunktion“ bestanden, Ausführungen zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gemacht und dabei insbesondere die raumordnerische Bedeutung der Kreissitzbestimmung hervorgehoben, bei der Kriterienbestimmung gerügt, dass beim Hilfskriterium der Einwohnerzahl als Abweichung von der Stichtagsregelung nur ein bereits veröffentlichter Fusionsvertrag habe Berücksichtigung finden sollen, sowie geltend gemacht, die Abstimmung über den Kreissitz habe auf keinem System beruht. Außerdem sei sie im Verhältnis zu Halberstadt ungleich behandelt worden; schließlich sei die Fusion zur neuen Stadt Bitterfeld-Wolfen nicht als gebotene Ausnahme berücksichtigt worden.

{RN:50}
Dieser neue Vortrag macht es nicht erforderlich, erneut in die mündliche Verhandlung einzutreten.


Entscheidungsgründe

{RN:51}
Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).

{RN:52}
1. Es handelt sich um eine statthafte Verfassungsbeschwerde (1.1.), bei der die Beschwerdebefugnis zu bejahen ist (1.2.) und bei der die übrigen formellen Voraussetzungen erfüllt sind (1.3.).

{RN:53}
1.1. Das Landesverfassungsgericht ist nach Art 75 Nr. 7 der Landesverfassung - LSA-Verf - vom 23.08.1993 (LSA-GVBl., S. 441), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27.01.2005 (LSA-GVBl., S. 44), und §§ 2 Nr. 8; 51 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht - LSA-VerfGG - vom 23.08.1993 (LSA-GVBI., S. 441), zuletzt geändert durch Gesetz vom 26.03.2004 (LSA-GVBl., S. 234), zur Entscheidung über die kommunale Verfassungsbeschwerde gegen formelle Gesetze berufen, von denen geltend gemacht wird, sie verstießen gegen das kommunale Selbstverwaltungsrecht (st. Rspr. seit LVerfG, Urt. v. 31.05.1994 - LVG 2/93 -, LVerfGE 2, 227 [245]; Urt. v. 22.02.1996 - LVG 2/95 -, LVerfGE 4, 401 [404]).

{RN:54}
1.2. Die Beschwerdeführerin ist beschwerdebefugt, weil sie durch die Kreissitzbestimmung in eigenen Rechten verletzt sein kann (1.2.1.); dann betrifft sie diese Regelung auch gegenwärtig (1.2.2.) und unmittelbar (1.2.3.).

{RN:55}
1.2.1. Eine denkbare Rechtsverletzung scheidet nicht schon deshalb aus, weil sich die Beschwerdeführerin nur gegen die Kreissitzbestimmung für den neuen Landkreis wehrt (1.2.1.1.). Sie erscheint auch nicht deshalb unmöglich, weil Art. 90 LSA-Verf auf die Kreissitzbestimmung keine Anwendung findet; das Landesverfassungsgericht hält an seiner früheren Rechtsprechung fest, nach welcher das Selbstverwaltungsrecht aus anderen Gründen berührt sein kann, als sie durch Art. 90 LSA-Verf erfasst sind (1.2.1.2.).

{RN:56}
1.2.1.1. Eine Betroffenheit in eigenen Rechten ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil sich die Beschwerdeführerin nur gegen § 1 des Gesetzes zur Bestimmung des Kreissitzes Anhalt-Bitterfeld vom 20.12.2005 (LSA-GVBl., S. 760) - KreissitzG Anhalt-Bitterfeld -, geändert durch Gesetz vom 19.12.2006 (LSA-GVBl., S. 544), wendet.

{RN:57}
Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass dieses Gesetz nur die Bestimmung des Sitzes für den neuen Kreis enthält, während die Beschwerdeführerin nicht erst dadurch, sondern bereits durch den Untergang des Landkreises Bitterfeld die Eigenschaft als Kreisstadt verliert. Allerdings entspricht es der bisherigen Rechtsprechung des Landesverfassungsgerichts (LVerfG LSA, Urt. v. 31.05.1994 - LVG 1/94 -, LVerfGE 2, 273 [292] <Zeitz>; Urt. v. 31.05.1994 - LVG 4/94 -, LVerfGE 2, 323 [335, 339] <Genthin>), an der es festhält, dass die Entscheidung über den neuen Kreissitz weder in die Position der bisherigen Kreisstadt noch diejenige des aufgelösten Landkreises eingreifen kann, sondern dass es sich bei der Festlegung des neuen Kreissitzes allein um eine Organisationsentscheidung für den neu gebildeten Landkreis handelt. Bei umfassenden Neugliederungen hängen aber der Gebietszuschnitt und die Entscheidung über den Sitz der neuen Körperschaft derart zusammen, dass der Gesetzgeber berechtigt ist, auch über den Sitz zu entscheiden (LVerfGE 2, 323 [335]); von diesem inneren Zusammenhang geht § 12 des Gesetzes zur Kreisgebietsneuregelung - LSA-LKGebNRG - vom 11.11.2005 (LSA-GVBl., S. 692), geändert durch Gesetz vom 19.12.2006 (LSA-GVBl., S. 544), aus, wenn er zwar nicht im selben Gesetz die Kreissitze festlegt, sondern sie jeweils besonderen Gesetzen vorbehält. Der innere Zusammenhang wird aber nicht zuletzt dadurch bestätigt, dass sowohl das Gesetz zur Kreisgebietsneuregelung als auch sämtliche - sogar am selben Tag beschlossenen und verkündeten - Gesetze über die Bestimmung der Kreissitze zum selben Zeitpunkt in Kraft treten (§ 23 Abs. 3 LSA-LKGebNRG; § 2 KreissitzG Anhalt-Bitterfeld).

{RN:58}
1.2.1.2. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Landesverfassungsgerichts (LVerfGE 2, 323 [335, 339]) kann zwar auch die Beendigung der Kreissitzeigenschaft durch Auflösung des alten Kreises und die Bestimmung des Sitzes für den neuen Kreis nicht in die eigenen Rechte der (bisherigen) Sitzgemeinde eingreifen, weil mangels Gebietsänderung bei der (bisherigen) Kreisstadt Art. 90 LSA-Verf nicht anwendbar und deren Selbstverwaltungsrecht in organisatorischer Hinsicht nicht betroffen ist, sondern nur dasjenige des (neuen) Landkreises; dessen ungeachtet kann sich aber die bisherige Kreisstadt insoweit auf das Selbstverwaltungsrecht (Art. 2 Abs. 3; 87 LSA-Verf) berufen, als sie infolge der gleichsam planerischen Entscheidung über die Gebietsreform Auswirkungen auf ihren Aufgabenbereich i. S. des Art. 87 Abs. 1 LSA-Verf befürchtet (vgl. insbes. LVerfGE 2, 323 [336 ff.]). An dieser Rechtsprechung wird festgehalten.

{RN:59}
Entgegen der Auffassung der Landesregierung ist das Vorbringen der Beschwerdeführerin über die Auswirkungen der Kreissitzbestimmung hinreichend substanziiert. Es würde sie überfordern, wollte man von ihr verlangen, dass sie konkret alle negativen Auswirkungen darlegt, welche der Verlust des Kreissitzes zur Folge haben könnte.

{RN:60}
Dass von einem solchen „Sonderopfer“ (LVerfGE 2, 323 [337, 338]) ausgegangen werden kann, lässt sich nämlich zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Kreissitz nicht hinreichend sicher belegen, zumal in einer Gesamtschau nicht nur auf die Kernkompetenzen, sondern auch auf diejenigen Aufgaben abgestellt werden muss, die sich innerhalb der Einrichtungsgarantien und der Staatsziele (Art. 3 Abs. 2, 3 LSA-Verf) halten (LVerfGE 2, 323 [337 f.]). Auch die Untersuchungen über die frühere Kreisreform geben kein einheitliches Bild; dass in einem in der Diskussion hervorgehobenen Fall (Gardelegen) der Sitzverlust ohne negative Auswirkung geblieben ist, belegt nicht, dass er ohne jede Bedeutung für die weitere Situation jeder bisherigen Kreisstadt sei.

{RN:61}
Auf dieser Grundlage kann die Beschwerdeführerin jedenfalls eine verfassungsgerichtliche Kontrolle verlangen, ob die Entscheidung des Gesetzgebers willkürfrei ergangen ist, ob sie durch überörtliche Interessen geboten ist und ob sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt (LVerfGE 2, 323 [336, 338]).

{RN:62}
1.2.2. Die Beschwerdeführerin kann die gesetzliche Regelung bereits jetzt beanstanden, obwohl die gerügte gesetzliche Bestimmung noch gar nicht in Kraft getreten ist; denn das Gesetz ist bereits verkündet. §§ 51 Abs. 2; 48 LSA-VerfGG stellen zwar auf das In-Kraft-Treten als Fristbeginn ab, markieren damit aber bei erst in Zukunft wirksam werdenden Regelungen nur den äußersten Zeitpunkt. Dies schließt nicht aus, das bereits „in der Welt befindliche“ Gesetz schon vor seinem In-Kraft-Treten anzugreifen, wenn - was für den Fall einer umfassenden Gebietsreform anzunehmen ist - besonderer Anlass (so auch Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Loseblattsammlung, 25. Lieferung, März 2006, § 93 RdNr. 49 [S. 31, 1. Abs.]) besteht, nach Verkündung des Gesetzes Rechtsklarheit bereits zum frühest möglichen Zeitpunkt zu schaffen.

{RN:63}
Das entspricht der Praxis des Landesverfassungsgerichts bei Gebietsreformen (vgl. In-Kraft-Treten des Reformgesetzes am 01.07.1994 [LVerfGE 2, 273 <276>; 2, 323 <324>] - Verfassungsbeschwerde erhoben am 30.12.1993 [LVerfGE 2, 273 <285>] bzw. am 25.02.1994 [LVerfGE 2, 323 <331>] - Entscheidung vom 31.05.1994 [LVerfGE 2, 273 <276>; 2, 323 <324>]).

{RN:64}
1.2.3. Die denkbaren Auswirkungen auf den Aufgabenbereich des Art. 87 LSA-Verf entstehen unmittelbar durch die Entscheidung des Landesgesetzgebers über den Kreissitz.

{RN:65}
1.3. Die Verfassungsbeschwerde ist formgerecht (§§ 51 Abs. 2; 49 LSA-VerfGG) erhoben worden.

- Die Entscheidung zur Zulässigkeit ist mit fünf gegen zwei Stimmen ergangen. -

{RN:66}
2. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht begründet; denn die Entscheidung des Gesetzgebers, die Beschwerdeführerin bei der Vergabe des Kreissitzes nicht zu berücksichtigen, ist verfassungsrechtlich weder formell (2.1.) noch materiell (2.2.) zu beanstanden.

{RN:67}
2.1. Das beanstandete Kreissitzgesetz ist verfahrensgerecht zustande gekommen. Verfahrensmängel sind nicht ersichtlich. Das gilt insbesondere für die Frage rechtzeitiger Anhörung.

{RN:68}
Die Beschwerdeführerin beanstandet zu Unrecht den Umfang der Aufklärung; denn diese muss sich - wie die Anhörung (vgl. insoweit: LVerfGE 2, 273 [299]; LVerfG LSA, Urt. v. 13.06.2006 - LVG 14/05 -, LKV 2007, 125 [125]) - nur auf die Tatsachen beziehen, welche der Gesetzgeber seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat. Schon der Gesetzentwurf der Landesregierung stellte erkennbar lediglich auf die in der allgemeinen Begründung aufgeführten Kriterien ab.

{RN:69}
Die Beschwerdeführerin rügt aber nicht eine unzureichende Ermittlung „innerhalb des Systems“, sondern verlangt in der Sache die Berücksichtigung weiterer Gesichtspunkte (z. B. die eigenständige Einordnung der Stadt Bitterfeld in das System zentraler Orte oder Wahrung des „Bestandsschutzes“).

{RN:70}
Das kann sie mit der Verfahrensrüge nicht erreichen.

{RN:71}
2.2. Die Kreissitzentscheidung für die Stadt Köthen ist auch in der Sache nicht zu beanstanden.

{RN:72}
Sie ist durch überörtliche Interessen gerechtfertigt (2.2.1.), verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (2.2.2.), ist „systemgerecht“ und auch im Übrigen „willkürfrei“ (2.2.3.). Die Beschwerdeführerin kann keinen Bestandsschutz für sich in Anspruch nehmen (2.2.4.). Änderungen des Kreiszuschnitts durch das Änderungsgesetz vom 19.12.2006 verlangen keine neue Entscheidung über den Kreissitz für Anhalt-Bitterfeld (2.2.5.).

{RN:73}
2.2.1. Zu Recht geht die Landesregierung davon aus, dass Art. 90 LSA-Verf als Prüfungsmaßstab ausscheidet; denn diese Bestimmung betrifft - wie das Landesverfassungsgericht bereits entschieden hat (LVerfG LSA, Urt. v. 31.05.1994 - LVG 2/93 -, LVerfGE 2, 227 [246, 251 f.]; LVerfGE 2, 323 [335]; Urt. v. 13.06.2006 - LVG 21/05 -, http://www.lverfg.justiz.sachsen-anhalt.de, RdNr. 60, insoweit nicht enthalten in LVerfG LSA, Urt. v. 13.06.2006 - LVG 7/05 -, NVwZ 2007, 78 ff.) - nur Eingriffe in den Gebietsbestand der Kommune. Deshalb ist die „Gemeinwohlschranke“ nicht einschlägig. Allerdings hält es das Gericht in Anlehnung an die frühere Rechtsprechung zur Kreisgebietsreform 1993/94 (LVerfGE 2, 323 [337]) und die dort zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Planungsrecht (BVerfGE 56, 298 [313 f.]; 76, 107 [119 f.]) für erforderlich, dass der Eingriff - hier: der Verlust des Kreissitzes - durch überwiegende überörtliche Interessen gerechtfertigt ist.

{RN:74}
Dem ist genügt; die Beschwerdeführerin verliert die Eigenschaft, Kreisstadt zu sein, durch die Auflösung des Landkreises Bitterfeld (§ 8 Abs. 1 LSA-LKGebNRG).

{RN:75}
Diese gesetzliche Regelung, welche im vorliegenden Verfahren nicht angegriffen ist, begründet das überörtliche Interesse, den Sitz des neuen, durch Fusion zweier Landkreise entstehenden Landkreises Anhalt-Bitterfeld (§ 8 Abs. 2 LSA-LKGebNRG) erstmalig zu bestimmen.

{RN:76}
Das Konzept des Gesetzgebers, die Zahl der Landkreise in der Regel durch Vollfusionen zu reduzieren, hat notwendigerweise zur Folge, dass die bisherigen Kreissitze untergehen. Die Neubestimmung des Kreissitzes ist Teil dieses Konzepts (vgl. auch § 12 LSA-LKGebNRG).

{RN:77}
2.2.2. Der Gesetzgeber hat bei dieser Lage keine andere Wahl, als den Kreissitzverlust bei einer der beiden bisherigen Sitzgemeinden in Kauf zu nehmen. Eine gesetzliche Anordnung, mehrere kreisangehörige Gemeinden mit Teilfunktionen des Hauptsitzes zu betrauen oder Nebenstellen einzurichten, scheidet aus verfassungsrechtlichen Gründen aus, weil der Gesetzgeber anderenfalls in die Organisationshoheit und damit in das gleichwertige (Art. 87 Abs. 1 LSA-Verf) Selbstverwaltungsrecht des (neuen) Landkreises eingreifen würde (LVerfGE 2, 323 [339]: NdsStGH, Urt. v. 14.02.1979 - StGH 2/77 -, StGHE 2, 1 [208 ff.]).

{RN:78}
Die grundsätzliche Eignung der Konkurrenzstadt für die Aufgaben einer Kreisstadt steht nicht in Frage (vgl. dazu auch die Äußerung des Ministers des Innern in der zweiten Beratung [LdTgStenBer 4/67 v. 10.11.2005, S. 4757 ff.]).

{RN:79}
2.2.3. Die Entscheidung für die Stadt Köthen und damit notwendigerweise gegen die Beschwerdeführerin beruht im Ergebnis auf einem „Vergabesystem“ des Gesetzgebers (2.2.3.1.). Dieses ist geeignet, die Kreissitzvergabe zu steuern; es bedarf keiner Ergänzung (2.2.3.2.). Nach dem Kriterienkatalog kommt die Beschwerdeführerin als Kreissitz nicht in Betracht (2.2.3.3.).

{RN:80}
2.2.3.1. Der Gesetzgeber kann seinen Gestaltungsspielraum jedenfalls im Bereich der kommunalen Neuordnung selbst durch ein geeignetes „System“ binden (2.2.3.1.1.). Dies ist durch Übernahme der in der Regierungsvorlage genannten Entscheidungskriterien geschehen (2.2.3.1.2.).

{RN:81}
2.2.3.1.1. Wesentlicher Gegenstand der Diskussion um die Vergabe von Kreissitzen i. S. des § 12 LSA-LKGebNRG war der Kriterienkatalog der Landesregierung in deren einzelnen Gesetzentwürfen. Erkennbarer Zweck war es, das Ermessen des Gesetzgebers durch dieses „Vergabesystem“ zu binden. Das ist im Grundsatz zulässig, soweit den gewählten Kriterien keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegenstehen, sie insbesondere für die Kreissitzbestimmung nicht unangemessen oder ungeeignet sind (LVerfGE 2, 323 [340]). Die Auswahl unter mehreren gleichermaßen verfassungsgemäßen Regelungen ist dem Gestaltungsraum des Gesetzgebers überlassen, der sich selbst „binden“ darf, nach welchen Gesichtspunkten er die Regelung trifft. Eine solche Selbstbindung hat allerdings zur Folge, dass er - wenn er das „System“ verlässt - gegen das aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip herzuleitenden „Willkürverbot“ verstoßen kann, sofern dies ohne sachlichen Grund geschieht (LVerfGE 2, 323 [341], m. w. Nachw.). Dies entspricht der Rechtsprechung von Landesverfassungsgerichten anderer Länder (vgl. dazu besonders: NdsStGH, StGHE 2, 1 [155]; NdsStGH, Rechtsgutachten v. 13.12.1989 - StGH 1/89 -, StGHE 3, 84 [97 f.]; StGH BW, Urt. v. 08.09.1972 - GR 6/71 -, ESVGH 23, 1 [5]).

{RN:82}
Dem steht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschl. v. 10.11.1981 - 1 BvL 18,19/77 -, BVerfGE 59, 36 [49]) nicht entgegen, nach welcher die Systemabweichung die Verfassungswidrigkeit lediglich „indiziert“; denn wie weit die Bindung an das „System“ reicht, hängt davon ab, in welchem Umfang trotz aufgestellter „Kriterien“ noch Raum für Abwägungen bleiben kann oder soll (zu Abwägungen „innerhalb“ des „Systems“ vgl. StGH BW, ESVGH 13, 1 [5]).

{RN:83}
Dass die Regierungsvorlage, welche die genannten Kriterien als Maßstab empfohlen und eine Erweiterung verworfen hatte, Teil des Gesetzgebungsverfahrens ist (Art. 77 Abs. 2 LSA-Verf), bedeutet indessen noch nicht, dass sie auch für den gesamten Gang der Gesetzgebung gelten; denn die Gesetze werden vom Landtag beschlossen (Art. 77 Abs. 1 LSA-Verf). Ihm allein obliegt es deshalb, sein Ermessen bei der Gesetzgebung zu binden. Eine gegenteilige Auffassung, welche ohne Weiteres die Geltung der nur von der Landesregierung bei Einbringung des Entwurfs verantworteten Kriterien mit bindender Wirkung auch für den Landtag annähme, müsste als Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Parlaments angesehen werden, welchem die entscheidende Kompetenz zukommt, den Inhalt des beschlossenen Gesetzes zu bestimmen.

{RN:84}
Zu dieser Kompetenz zählt deshalb auch die Festlegung und Anwendung von „Kriterien“ für die Bestimmung der Kreissitze im Rahmen einer kommunalen Neuordnung. Finden die im Gesetzgebungsverfahren ursprünglich zugrunde gelegten Kriterien keine parlamentarische Mehrheit, so müssen sie ggf. so geändert oder neu entwickelt werden, dass bei ihrer Anwendung Neugliederungslösungen einerseits nicht sachwidrig sind und sie andererseits nunmehr die Zustimmung der parlamentarischen Mehrheit finden können (NdsStGH, StGHE 2, 1 [155]). Eine derartige Neubestimmung von „Kriterien“ wird in der Regel als wesentliche Änderung des Vorhabens eine erneute Anhörung der Träger kommunaler Selbstverwaltung erfordern (SächsVfGH, Urt. v. 23.06.1994 - Vf. 4-VIII-94 -, LKV 1995, 115 [116]).

{RN:85}
Insoweit zählt rein objektiv die Mehrheitsentscheidung, ohne dass die Motive der einzelnen Abgeordneten erforscht werden können und müssen (Art. 77 Abs. 1 LSA-Verf); die Landesverfassung fordert nämlich keine „Begründung“ für das Abstimmungsverhalten (vgl. etwa für die Bundesverfassung zum Gewissensbezug: Morlok, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 38 RdNr. 146; Magira, in: Sachs, GG, 3. Aufl., Art. 38 RdNr. 47; Schreiber, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, C Art. 38 RdNr. 102; Trachternach, Die Freiheit des Abgeordneten und die Ratlosigkeit des Juristen, DVBl. 1975, 85 [86 f.]; im Ansatz auch: H. H. Klein, Status des Abgeordneten, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II § 41 RdNr. 15; vgl. auch [keine Motiverforschung]: BayVfGH, Entschdg. v. 29.09.2005 - Vf. 3,7-VII-05 -, JURIS, RdNrn. 116, 136; vgl. ferner [keine Begründungspflicht des Gesetzgebers]: BVerfG, Urt. v. 27.05.1992 - 2 BvF 1,2/88, 1/89, 1/90 -, BVerfGE 86, 148 [212, 248], unter Hinweis auf BVerfG, Urt. v. 24.06.1986 - 2 BvF 1,5,6/83, 1/84, 1,2/85 -, BVerfGE 72, 330 [396 f.]; NdsStGH, StGHE 2, 1 [159 f.]; StGH BW, ESVGH 23, 1 [6 f.]; LVerfG LSA, Urt. v. 13.07.1999 - LVG 20/97 -, LVerfGE 10, 440 [453]; kritisch zur Frage der Begründungspflicht: Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, in: ZG 2001, 1 [30 ff.]).

{RN:86}
2.2.3.1.2. Nachdem der Ausschuss für Inneres die Regierungsvorlage für den Kreissitz Köthen mit der amtlichen Begründung gebilligt hatte, sind die „Kriterien“ für die Kreissitzvergabe nicht verändert oder in Frage gestellt worden. Zwar erscheinen einzelne Stimmen in der allgemeinen Debatte bei der zweiten Beratung - z. B. man lasse sich nicht sklavisch an die Kriterien binden, weil der Gesetzgeber auch bei Leitlinien einen weiten Beurteilungsspielraum behalte (LdTgStenBer 4/67 v. 10.11.2005, S. 4768) - bedenklich. Verfassungsrechtlich sind nämlich einerseits die Bindung durch ein „System“ und andererseits die Gestaltungsfreiheit bei Abweichungen gerade nicht miteinander zu vereinbaren. Vielmehr muss die Ausnahme vom „System“ durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein, der - objektiv - als in Ansehung der Systematik so nicht gewollt bewertet werden muss.

{RN:87}
Allerdings lässt sich dies im Ergebnis nicht als Verzicht auf die „Kriterien“ der Regierungsvorlage bewerten, weil sich in der konkreten Debatte über die Alternative für diesen Landkreis alle Sprecher auf die Kriterien berufen haben, die sie - was die Festlegungen nach dem Raumordnungsprogramm angeht - nur unterschiedlich haben angewendet wissen wollen (LdTgStenBer, a. a. O., S. 4769 ff.). Das gilt für die Begründung zum Änderungsantrag gleichermaßen wie für die Rechtfertigung der Beschlussvorlage des Ausschusses für Inneres. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass für den hier streitigen Kreissitz mit Mehrheit auf die Kriterien abgestellt worden ist.

{RN:88}
Dieses Ergebnis wird dadurch bestätigt, dass von der Mehrheit die Vorlage des Ausschusses für Inneres gebilligt worden ist, der wiederum - ungeachtet der Ankündigungen für das Abstimmungsverhalten der Fraktionen in der abschließenden Beratung - die Annahme der Regierungsvorlage empfohlen hatte.

{RN:89}
2.2.3.2. Die von der Landesregierung erarbeiteten und vom Landtag im Ergebnis nicht in Frage gestellten „Kriterien“ sind geeignet, die Kreissitzvergaben zu steuern.

&#61623; Mit dem ersten Kriterium (bislang Kreisstadt) wird sowohl ein gewisser „Bestandsschutz“ gewährleistet als auch berücksichtigt, dass die bisherigen Kreise in einer solchen Stadt Investitionen getroffen haben und dass aus ihr Arbeitskräfte in der bisherigen Kreisverwaltung arbeiten.

&#61623; Mit dem zweiten Kriterium (Lage im neuen Landkreis) wird ausdrücklich nur an die Identifikation der Kreiseinwohner angeknüpft, was gleichfalls keinen Bedenken begegnet.

&#61623; Es ist von Verfassungs wegen insbesondere nicht zu beanstanden, dass das dritte Kriterium den Schwerpunkt darauf legt, welche der auszuwählenden Städte am „leistungsstärksten“ ist. Da der Landkreis überörtliche Funktionen hat, durfte dafür ohne Verfassungsverstoß schematisierend auf raumordnerische Festsetzungen (LVerfGE 2, 323 [340]; NdsStGH, StGHE 2, 1 [172]) sowie auf die Größe der Stadt (Einwohnerzahl) abgestellt werden.
Dem mag allenfalls entgegengehalten werden, angesichts zu vieler potenzieller Kreisstädte mit gleicher zentralörtlicher Bedeutung sei dieses Kriterium zu wenig trennscharf, um die gewollte Abgrenzung zu leisten (vgl. etwa Redebeitrag Gallert in der zweiten Beratung [LdTgStenBer 4/67 v. 10.11.2005, S. 4765]); dies ist indessen verfassungsrechtlich deshalb ohne Bedeutung, weil bei raumordnerischer Gleichrangigkeit ergänzend auf die Größe der künftigen Kreisstadt abgestellt wird. Dieses Hilfskriterium symbolisiert wie die raumordnerische Festsetzung die Bedeutung der Stadt im Raum.
Wegen dieser Motivation, auf die Stellung im Raum abzustellen, erledigt sich auch der Einwand der Beschwerdeführerin, die Kreissitzbestimmung im Landkreis Anhalt-Bitterfeld vernachlässige „willkürlich“ die Teilfunktion eines Oberzentrums, das raumordnerisch höheren Wert habe als die Mittelzentrumsfunktion. Stellt der Gesetzgeber auf die Raumordnung als Kriterium ab, so ist er gleichwohl nicht gehalten, dieses System ohne Abstriche zu übernehmen, sondern er darf für die besonderen Zwecke, den Kreissitz zu ermitteln, die Festsetzungsinhalte diesem Zweck anpassen. Dem entspricht es, zu unterscheiden, ob eine Stadt eine raumordnerische Bedeutung aus sich heraus hat oder ob es sich lediglich um eine dienende Funktion für eine andere Stadt handelt.
Für die Größe durfte ein Stichtag verwendet werden; unwidersprochen ist dargelegt, der gewählte Tag stelle sicher, dass die aktuellsten, statistisch geprüften Daten zugrunde gelegt werden konnten.
Nicht zu beanstanden ist, dass das Hilfskriterium „geöffnet“ worden ist für Veränderungen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gesetzgebers feststanden. Dann durfte aber auch vor allem darauf abgestellt werden, ob die Gebietsänderung schon wirksam war.

&#61623; Das Negativ-Kriterium (keine gemeinsame Grenze mit einem Oberzentrum) ist für die Entscheidung in diesem Verfahren ohne Bedeutung.

{RN:90}
Mit der Landesregierung ist davon auszugehen, dass diese vier Punkte den Vorteil der Eindeutigkeit für sich haben. Soweit die Beschwerdeführerin im Einklang mit Kritikern während des Gesetzgebungsverfahrens beanstandet, wegen dieser Eindeutigkeit ließen die Kriterien keine Abwägung mehr zu (K.o.-System), handelt es sich um Argumente politischer Zweckmäßigkeit, die das Landesverfassungsgericht angesichts der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, der sich durch ein „System“ binden kann, nicht selbständig bewerten darf. Es war aber der Zweck dieser Selbstbindung - und damit gerade Teil des „Systems“ -, zusätzliche „Bewertungen“ nicht mehr zuzulassen.

{RN:91}
Der Katalog bedurfte aus verfassungsrechtlicher Sicht keiner Ergänzung.

{RN:92}
Dass die früheren Leitlinien für die Kreissitzvergabe bei der Reform 1993/94 auch andere Kriterien für wesentlich gehalten oder zugelassen haben (vgl. insoweit bei: LVerfGE 2, 323 [340 ff.]), bleibt ohne Bedeutung für diese Verfahren; denn es handelt sich um ein anderes Reformvorhaben.

{RN:93}
Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, dass andere erörterte Kriterien mangels begrifflicher Präzision verworfen worden sind. Auch von der Funktion der Kreisstadt her, Verwaltungszentrum der Gebietskörperschaft zu sein, drängen sich weitere Abwägungspositionen nicht derart auf, dass das Verfassungsgericht gehalten wäre, sie von Verfassungs wegen einzufordern.

{RN:94}
2.2.3.3. In Anwendung der Kriterien für die Kreissitzvergabe erfüllt nicht die Beschwerdeführerin, sondern die Stadt Köthen die Voraussetzungen.

{RN:95}
Mit der Landesregierung ist davon auszugehen, dass - sofern man sich streng an den Wortlaut der Vergabekriterien hält, soweit sie auf die Landesplanung verweisen - schon die in der Regierungsvorlage und im späteren Gesetzgebungsverfahren angenommene Konkurrenz der beiden in Betracht kommenden bisherigen Kreisstädte gar nicht bestand; denn nur Köthen hat nach dem Raumordnungsprogramm als Stadt die Funktion des Mittelzentrums. Soweit bei Bitterfeld ein Mittelzentrum (mit Teilfunktionen eines Oberzentrums für Dessau) ausgewiesen ist, betrifft diese Festsetzung nicht die Stadt Bitterfeld, sondern den Raum Bitterfeld-Wolfen. Für die Lage der Stadt Bitterfeld im Raum fehlt eine gleichwertige Aussage.

{RN:96}
Allerdings wird man mit der Beschwerdeführerin davon ausgehen können, dass sogar Bitterfeld als Stadt die Voraussetzungen erfüllen würde, um jedenfalls als Mittelzentrum ausgewiesen zu werden. Dann aber besteht ein besonderer Grund, insoweit eine Ausnahme vom raumordnerischen Teil des „Systems“ zu machen, die Aussage wie in den sonstigen Fällen auf die Stadt zu beziehen und Bitterfeld deshalb als Mittelzentrum gleichwertig mit Köthen zu behandeln.

{RN:97}
Ob bei dieser Gleichstellung mit Köthen als Mittelzentrum auch der Teil der Ausweisung im Landesentwicklungsprogramm mit als Ausnahme anzuerkennen wäre, der die Teilfunktionen für das Oberzentrum Dessau beinhaltet, erscheint dagegen eher zweifelhaft.

{RN:98}
Dies kann aber unentschieden bleiben; denn die Teilfunktion für das Oberzentrum Dessau darf außer Betracht bleiben, weil diese Einstufung nicht - wie bei Halberstadt - wegen der Lage der Stadt im Raum festgelegt worden ist. Die gegenteilige Ansicht der Beschwerdeführerin lässt sich nicht mit Blick auf die Begründung zum Landesentwicklungsprogramm rechtfertigen; denn die von ihr betonten weiteren Erwägungen stehen auch nach der Begründung neben der Stellung im Raum, auf die es nach den „Vergabekriterien“ maßgeblich ankommen sollte.

{RN:99}
Die Einschränkung wird nicht dadurch sachwidrig oder gar „willkürlich“, dass sie - ausschließend - nur in der Konkurrenz Bitterfelds mit Köthen tatsächlich zur Anwendung gelangt; denn sie darf gleichwohl vorgenommen werden, weil für sie ein sachgerechter Grund streitet. Der Gesetzgeber, der Kriterien für die Kreissitzvergabe schafft, ist frei, diejenigen zu bestimmen, welche für die Sitzvergabe tauglich sind. Deshalb ist er auch bei einem Rückgriff auf ein Raumordnungsprogramm nicht gehindert, dieses seiner Entscheidung mit Abweichungen zugrunde zu legen. Erst recht unerheblich ist, dass ein früheres Raumordnungsprogramm bei der Zuweisung von Teilfunktionen eines Oberzentrums die jetzige Unterscheidung nicht getroffen hat; denn dieses Programm, das lediglich auf einem Vorschaltgesetz beruhte, ist durch die endgültige, jetzt geltende Regelung bereits im Jahr 1999 abgelöst worden.

{RN:100}
Bei dem dann notwendig werdenden Einwohnerzahl-Vergleich kommt Köthen der Vorrang zu.

{RN:101}
Unabhängig davon, dass zum Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses die Fusion mit anderen Gemeinden zur neuen Stadt Bitterfeld-Wolfen noch nicht in Abweichung vom Stichtag zu berücksichtigen war, was neben dem Vertragsschluss und der Genehmigung auch die Veröffentlichung vorausgesetzt hätte, bestand jedenfalls die größere Gemeinde noch gar nicht, weil der Vertrag erst am 01.07.2007 in Kraft treten wird.

{RN:102}
Dann kann offen bleiben, ob die neue Stadt Bitterfeld-Wolfen nicht mehr das erste Kriterium erfüllen würde, schon bisher Kreisstadt gewesen zu sein.

{RN:103}
Nicht gefolgt werden kann der Beschwerdeführerin, wenn sie mit der Behauptung, wesentliches Vergabekriterium sei die „Stärkung der Stärksten“, andere als die vier Gesichtspunkte der Regierungsvorlage für entscheidungserheblich hält; denn hinter dem dritten Kriterium verbirgt sich keine übergreifende Aussage, die weitere Abwägungen zulässt, sondern es handelt sich nur um das Leitmotiv, das dann als Systemteil durch die Gesichtspunkte der Raumordnung und der Einwohnerzahl definiert wird. Damit hat das Leitmotiv für die Entscheidung selbst keine größere Bedeutung, als wenn es lediglich ein Begründungselement darstellte.

{RN:104}
2.2.4. Das Ergebnis - die Kreissitzvergabe an die Stadt Köthen - kann die Beschwerdeführerin nicht mit Hilfe von Bestandsschutz-Gesichtspunkten abwehren.

{RN:105}
Folgte man ihrer Argumentation, dann genösse nicht nur sie, sondern gleichermaßen die Stadt Köthen „Bestandsschutz“, weil dreißig Jahre seit der letzten Gebietsreform noch nicht abgelaufen sind. Das müsste zur Folge haben, dass die Fusion der Landkreise hätte unterbleiben müssen, weil zwangsläufig eine der bisherigen Kreisstädte diesen Status verliert.

{RN:106}
Dem ist schon deshalb nicht zu folgen, weil die jetzige Gebietsreform auf der Landkreisebene durch eine erhebliche Veränderung der Sachlage geboten war, so dass der Zuschnitt der Landkreise der Bevölkerungsentwicklung hatte angepasst werden müssen, die in diesem Umfang im Jahr 1993 noch nicht hatte vorausgesehen werden können. Ist aber die Gebietsreform geboten gewesen, so kann als notwendige Folge davon die Neubestimmung von Kreissitzen für flächenmäßig größere Kreise nicht beanstandet werden.

{RN:107}
Die frühere Reform strahlt auch nicht dermaßen auf die jetzige Entscheidung aus, dass eine Neubestimmung der Kreissitze nur nach den damaligen Kriterien vorgenommen werden dürfte; denn die jetzige Reform ist ein neuer Umstand, und bei seiner jetzigen Gestaltung hat der Gesetzgeber die ihm üblicherweise zustehende Freiheit, Kriterien auszuwählen, nach denen entschieden werden soll. Die Geltung der „früheren Kriterien“ hatte sich mit der damaligen Entscheidung von 1993 über die Kreissitze erledigt. Kreissitz zu sein, war nach In-Kraft-Treten des damaligen Reformgesetzes nicht weiter davon abhängig, ob die seinerzeit geltenden Kriterien dauernd erfüllt blieben oder nicht.

{RN:108}
Ganz abgesehen davon ist nicht einmal sicher, dass Bitterfeld nach den damaligen Kriterien von 1993 Kreissitz für ein Territorium geworden wäre, das dem heutigen Landkreis Anhalt-Bitterfeld entspricht; denn die früher maßgeblichen Kriterien waren „weicher“ als die jetzigen, weil jene innerhalb ihrer Bindung eine Abwägung gestatteten, während diese ganz eng gefasst sind und eine Abwägung überflüssig machen.

{RN:109}
Schließlich ist auch bei den früheren Leitlinien, soweit sie auf die Raumordnung abstellten, von Bedeutung, dass die Kategorie „Mittelzentrum mit Teilfunktionen eines Oberzentrums“ nach dem damals einschlägigen Vorschaltgesetz nicht der Stadt Bitterfeld, sondern dem Raum Bitterfeld-Wolfen zugewiesen war. Die Größe sowie die Wirtschaftskraft waren lediglich ein Kriterium unter mehreren, das nicht notwendig für eine bestimmte Alternative in Anspruch genommen werden kann.

{RN:110}
2.2.5. Die Beschwerdeführerin kann für ihre Position nichts daraus herleiten, dass das Gesetz über die Kreisgebietsneuregelung geändert worden ist; denn der Gesetzgeber hat die Kreissitzfrage nicht erneut aufgeworfen (2.2.5.1.) und war auch von Verfassungs wegen nicht gehalten, die Auswahl für Köthen zu problematisieren (2.2.5.2.).

{RN:111}
2.2.5.1. Soweit das Änderungsgesetz vom 19.12.2006 (LSA-GVBl., S. 544) auch das Kreissitz-Gesetz Anhalt-Bitterfeld berührt, handelt es sich dem Wortlaut nach lediglich um eine redaktionelle Änderung. Diese beruht nicht einmal auf der Regierungsvorlage (Entwurf für das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Kreisgebietsneuregelung und des Anhalt-Jerichow-Kreissitz-Gesetzes [LdTgDrs 5/232 v. 05.09.2006]), die nur eine Folgeänderung für das Jerichower Land enthielt. Eingefügt wurde die Änderung des Anhalt-Bitterfeld-Kreissitz-Gesetzes und eine gleichartige Änderung für das Jerichower Land erst durch den Ausschuss für Inneres (vgl. Beschlussempfehlung, LdTgDrs 5/332 v. 09.11.2006).

{RN:112}
Zwar wurde bei der zweiten Beratung (LdTgStenBer 5/10 v. 16.11.2006) erörtert, ob die Entscheidung im Anhalt-Bitterfeld-Gesetz „wiederaufgenommen“ werden sollte (Abg. Grünert [Linkspartei.PDS], a. a. O., S. 596; ähnlich Abg. Schindler [SPD], a. a. O., S. 597; Abg. Wolpert [FDP], a. a. O., S. 598); der Landtag ist dieser Frage aber erkennbar nicht nachgegangen, weil (so der Abg. Reichert [CDU], a. a. O., S. 599) Köthen nach den seinerzeitigen Vergabekriterien als Kreisstadt bestimmt worden war und die Stadt Zerbst selbst nicht davon ausgegangen sei, Kreissitz zu werden.

{RN:113}
2.2.5.2. Eine neue Entscheidung über den Kreissitz für den vergrößerten Anhalt-Bitterfeld-Kreis war auch verfassungsrechtlich nicht geboten. Die Stadt Zerbst kam nämlich von vornherein nicht als Kreisstadt in Betracht. Auszugehen ist auch für die Frage der Notwendigkeit neuer Befassung von den Vergabekriterien für den Kreissitz. Entscheidender Auslesepunkt war bei der gebotenen Gleichbehandlung in der Raumordnungsfrage (vgl. dazu - auch zur Ausnahmeregelung für die Stadt Bitterfeld - oben Abschn. 2.2.3.3.) die Einwohnerzahl. Diese lag für Zerbst (vgl. Gesetzentwurf Anhalt-Jerichow-Kreissitz-Gesetz [LdTgDrs 4/2235 v. 29.06.2005, Einzelbegründung zu § 1, S. 13: 15.632 Einwohner) zum Stichtag, den die Vergabekriterien bestimmt hatten, deutlich unter derjenigen für Köthen (vgl. Gesetzentwurf Anhalt-Bitterfeld-Kreissitz-Gesetz [LdTgDrs 4/2234 v. 29.06.2005, Einzelbegründung zu § 1, S. 13: 30.677 Einwohner).

{RN:114}
Die Beschwerdeführerin hatte zum Stichtag 15.755 Einwohner (LdTgDrs 4/2234, a. a. O., S. 13). Dass ihr Vertrag mit Wolfen und anderen Gemeinden inzwischen zu einer höheren Einwohnerzahl führen wird, ist nicht maßgeblich (vgl. oben Abschn. 2.2.3.3.), weil dieser Vertrag erst zum 01.07.2007 in Kraft tritt, so dass auch bei der Beschlussfassung über das Änderungsgesetz von der bisherigen Einwohnerzahl auszugehen gewesen wäre.

{RN:115}
Das Ergebnis wird durch eine Kontrollüberlegung gestützt.

{RN:116}
Wie die Begründung zum Änderungsgesetz vom 19.12.2006 (LdTgDrs 5/232 v. 06.09.2006, S. 10, 14) ergibt, ist Sinn der Regelung lediglich eine Korrektur der Zugehörigkeit des „Zerbster Raums“ auf der Grundlage des Bürgerwillens gewesen; sie ließ die Gebietsreform im Übrigen unangetastet. Demnach wurden lediglich Gemeinden aus dem Altkreis Anhalt-Zerbst dem schon als existent gedachten Landkreis Anhalt-Bitterfeld zugeordnet (deutlich insoweit die Regierungsvorlage, a. a. O., S. 14 [vor Nr. 2]: „Feinabstimmung“), so dass die Kreissitzfrage nur erneut hätte aufgeworfen werden müssen, wenn nach den früheren Kriterien und damit nach den früheren Stichtagen für die Bevölkerungszahl die Stadt Zerbst - und nicht die Stadt Bitterfeld - durch die Änderung des Kreiszuschnitts Chancen verloren hätte, bei rechtzeitigem Wechsel der Kreiszugehörigkeit Kreisstadt zu werden. Deshalb kommt es bei gleicher Bedeutung nach der Raumordnung (Mittelzentrum) allein darauf an, ob Zerbst einwohnerstärker ist als Köthen.


{RN:117}
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 32 LSA-VerfGG.

{RN:118}
Gerichtskosten werden nicht erhoben (Absatz 1). Da die Beschwerde ohne Erfolg bleibt, kommt für die Beschwerdeführerin keine Erstattung außergerichtlicher Kosten in Betracht; besondere Umstände, welche eine Ausnahme rechtfertigen könnten, liegen nicht vor. Auch eine Erstattung von außergerichtlichen Kosten der beteiligten Stadt Köthen scheidet aus, weil sich die Beteiligung im Wesentlichen auf eine Stellungnahme zum Begehren der Beschwerdeführerin beschränkt.



Sondervotum der Richter Dr. Zettel und Prof. Dr. Kluth

{RN:119}
Wir stimmen mit der Entscheidung darin überein, dass die Verfassungsbeschwerde ohne Erfolg bleiben muss. Unseres Erachtens ist sie jedoch bereits unzulässig und hätte deshalb verworfen werden müssen. Das durch Art. 2 Abs. 3, 87 LSA-Verf gewährleistete Recht der kommunalen Selbstverwaltung der Beschwerdeführerin ist durch die Bestimmung des Kreissitzes durch den Gesetzgeber sachlich unter keinem denkbaren Gesichtspunkt betroffen, so dass sich die Beschwerdeführerin nicht auf seine - mögliche - Verletzung berufen kann.

{RN:120}
1. Entsprechend Art. 28 Abs. 2 GG gewährleistet Art. 87 Abs. 1 LSA-Verf den Gemeinden das Recht der Selbstverwaltung. Dieses bezieht sich sachlich auf die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft und schließt funktionell die eigenverantwortliche Regelung bzw. Gestaltung dieser sowie der - im Rahmen der Gesetze -übertragenen Aufgaben ein. Durch die Festlegung des Kreissitzes durch den Gesetzgeber wird weder eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft geregelt (2.) noch in sonstiger Weise in das Selbstverwaltungsrecht in Gestalt der einzelnen Gemeindehoheiten eingegriffen (3.). Den Gemeinden steht darüber hinaus auch kein allgemeines, durch die kommunale Verfassungsbeschwerde geltend zu machendes Recht auf willkürfreie gesetzgeberische Entscheidung zu (4.).

{RN:121}
Durch die verfassungsrechtliche Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung wird eine arbeitsteilige Kompetenzordnung im Bereich der Exekutive verwirklicht, die getrennte Kompetenz- und Zuständigkeitsbereiche zur Folge hat.

{RN:122}
Die Selbstverwaltungsgarantie führt als besondere Kompetenzgarantie nicht zu einem umfassenden Schutz aller gemeindlichen Interessen und Aktivitäten. Sie unterscheidet sich damit grundlegend vom grundrechtlich geschützten Status der natürlichen Personen und ihrer Vereinigungen, deren Verhalten unter Einbeziehung des Auffanggrundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit geradezu umfassend und lückenlos vor staatlichem Zugriff geschützt wird.

{RN:123}
Setzt sich eine Gemeinde deshalb gegen eine Entscheidung des Gesetzgebers zur Wehr, so bedarf es des Nachweises, in welcher Kompetenz bzw. welcher durch die Selbstverwaltungsgarantie erfassten konkreten Rechtsposition sie nachteilig betroffen ist.

{RN:124}
Bezieht sich eine gesetzgeberische Regelung auf einen anderen Verwaltungsträger und dessen Kompetenzbereich (hier: eines Landkreises), so kommt eine Betroffenheit des gemeindlichen Selbstverwaltungsrechts nur ganz ausnahmsweise in Betracht, wenn es zugleich als Kehrseite dieser Maßnahme zu einer Beeinträchtigung gemeindlicher Kompetenzen kommt. Dies ist bei der Festlegung des Kreissitzes für die nicht zum Kreissitz bestimmte Gemeinde jedoch nicht der Fall.

{RN:125}
2. Durch die Festlegung des Kreissitzes greift der Gesetzgeber in das Selbstverwaltungsrecht des neu geschaffenen Landkreises ein, da die Bestimmung des Kreissitzes der Sache nach zur Organisationshoheit der Landkreise gehört (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 15.09.1994 - VfGBbG 2/93 -, LVerfGE 2, 164 &#61531;169&#61533;). Diese Entscheidung berührt, unabhängig davon, ob sie durch den Landkreis selbst oder durch den Gesetzgeber getroffen wird, nicht den Aufgabenbereich derjenigen Gemeinden, die nicht ausgewählt werden und dadurch im Falle einer Fusion von Landkreisen ihren bisherigen Status als Kreisstadt verlieren (so auch Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.10.1994 - VfGBbG 1/93 -, LVerfGE 2, 183 &#61531;188&#61533;, sowie Thüringer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 23.05.1996 - VerfGH 12/95 -, LVerfGE 4, 426 &#61531;435 f.], m. w. N.&#61533;).

{RN:126}
Bei der Bestimmung des Kreissitzes, eines Behördensitzes, handelt es sich um eine organisationsrechtliche Maßnahme, die den Sitz eines der Hauptorgane eines Landkreises, des Kreistages, festlegt. Da es sich um ein Organ des Landkreises handelt, ist auch allenfalls dessen durch Art. 87 LSA-Verf geschütztes Selbstverwaltungsrecht in Gestalt der Organisationshoheit betroffen.

{RN:127}
Bei der Bestimmung des Kreissitzes handelt es sich somit nicht um eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft einer Gemeinde, so dass diese insoweit auch keine Verletzung ihres Selbstverwaltungsrechts geltend machen kann (so auch Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.10.1994, a. a. O. sowie Thüringer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 23.05.1996 - VerfGH 12/95 -, a. a. O.).

{RN:128}
3. Darüber hinaus ist das gemeindliche Selbstverwaltungsrecht auch nicht im Bereich der so genannten Gemeindehoheiten betroffen; insbesondere wird durch die Festlegung des Kreissitzes auch nicht in die Planungshoheit derjenigen Gemeinde eingegriffen, die nicht zum Kreissitz bestimmt wird, wie es die Mehrheit des Gerichts in Anknüpfung an eine frühere Rechtsprechung des Gerichts (LVerfG LSA, Urt. v. 31.05.1994 - LVG 1/94 -, LVerfGE 2, 273 &#61531;292&#61533; Zeitz; Urt. v. 31.05.1994 - LVG 4/94 -, LVerfGE 2, 323 &#61531;335, 339&#61533; Genthin) annimmt.

{RN:129}
Die so genannten Gemeindehoheiten umschreiben das den Gemeinden garantierte Recht der eigenverantwortlichen Regelung der ihnen zugewiesenen Aufgaben des eigenen und des im Rahmen der Gesetze übertragenen Wirkungskreises in modaler Weise. Die kommunale Planungshoheit bezeichnet in diesem Zusammenhang das Recht der Gemeinde, die eigenen Angelegenheiten nicht nur von Fall zu Fall zu erledigen, sondern auf Grund von Analyse und Prognose erkennbarer Entwicklungen ein Konzept zu erarbeiten, das den einzelnen Verwaltungsvorgängen Rahmen und Ziel weist (vgl. Kluth, in: Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 3, 5. Aufl. 2004, § 94, RdNr. 72). Dazu gehört insbesondere, aber nicht nur, das Recht der örtlichen Bauleitplanung.

{RN:130}
Das „Recht“ der gemeindlichen Planung ist nicht bereits dadurch betroffen, dass sich durch Entscheidungen und Maßnahmen anderer Verwaltungsträger bzw. des Gesetzgebers die Rahmenbedingungen für die gemeindliche Planung in vielen Einzelbereichen (Flächennutzung, Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung etc.) verändern. Es ist zwischen den faktischen Auswirkungen und den Rechtsreflexen, die von Planungen anderer Kompetenzträger in ihrem Zuständigkeitsbereich auf die Gemeinden ausgehen, und Eingriffen in die gemeindliche Planungshoheit zu unterscheiden.

{RN:131}
Rechtlich betroffen ist die gemeindliche Planungshoheit nach der Rechtsprechung z. B. dann, wenn das Land für einen Teil des Gemeindegebiets zwingende Festlegungen trifft, so dass die gemeindliche Planungshoheit diese gem. § 1 Abs. 4 BauGB beachten muss und damit in der eigenen rechtlichen Gestaltungsfreiheit beschränkt ist. Anerkannt ist weiterhin, dass z. B. militärische Stationierungsmaßnahmen, die sich auf das Gebiet einer Gemeinde beziehen und sich damit auf die Sicherheitsinteressen der Einwohner auswirken, die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft betreffen und eine Klagebefugnis begründen.

{RN:132}
Die Festsetzung des Kreissitzes ist jedoch, ebenso wie die Bestimmung des Sitzes anderer Behörden von Bund und Ländern, lediglich mit faktischen Auswirkungen sowie Rechtsreflexen für die Gemeinden verbunden und zwar sowohl für die als Kreissitz ausgewählte Gemeinde als auch die unterlegenen Gemeinden.

{RN:133}
Die Veränderungen, die mit einer solchen Entscheidung verbunden sind, sind rein faktische Auswirkungen. Sie sind regelmäßig auch nicht von solchem Gewicht, dass ihnen alleine deshalb bereits normative Relevanz beizumessen wäre (siehe zu diesem Zusammenhang auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, 42. Lfg. Februar 2003, Art. 19 IV, RdNr. 120). Das wäre selbst bei einer großzügigen Betrachtungsweise allenfalls dann der Fall, wenn mit schweren und unerträglichen Auswirkungen zu rechnen würde, für die aber sowohl das Vorbringen der Beschwerdeführerin als auch die Erfahrungen in vergleichbaren Fällen keine Anhaltspunkte liefern (siehe insoweit auch Miller, Kriterien für den Zuschnitt von Landkreisen bzw. für die Festlegung des Kreissitzes im Rahmen von Verwaltungsreformen und Folgen des Kreissitzverlustes, in: LKV 2005, 478 &#61531;480], m. w. N.&#61533;).

{RN:134}
Auch soweit mit dem Verlust des Kreissitzes rechtliche Folgen, etwa im Bereich der raumplanerischen Einstufung einer Gemeinde, verbunden sind, handelt es sich nicht um einen Eingriff in das Selbstverwaltungsrecht, sondern allenfalls um einen Rechtsreflex. Die Kriterien für die Einstufung einer Gemeinde liegen unabhängig von einer solchen Entscheidung fest. Die Änderungen bei der Einstufung einer Gemeinde sind nur mittelbare Konsequenz der den Rechtskreis der Gemeinde nicht berührenden Maßnahme. Sie können deshalb für sich genommen ebenfalls nicht zur Begründung eines unmittelbaren Eingriffs in das Selbstverwaltungsrecht herangezogen werden.

{RN:135}
4. Aus dem gemeindlichen Selbstverwaltungsrecht und dem Rechtsstaatsprinzip folgt schließlich kein allgemeiner Anspruch der Gemeinde auf willkürfreies Handeln des Gesetzgebers, soweit sich seine Maßnahmen auf die gemeindlichen Interessen auswirken. Das unter anderem im Rechtsstaatsprinzip des Art. 2 Abs. 1 LSA-Verf verankerte Willkürverbot begründet ein subjektives, zur Erhebung der kommunalen Verfassungsbeschwerde berechtigendes Recht nur dann und so weit, als durch eine gesetzgeberische Maßnahme in den durch Art. 87 LSA-Verf geschützten Rechtskreis der Gemeinde eingegriffen wird. Insoweit unterscheidet sich der Status der Gemeinde als Träger hoheitlicher Kompetenzen von der durch die Grundrechte in ihrem Handeln grundsätzlich umfassend geschützten natürlichen Personen. Während diese einen Anspruch auf willkürfreies Handeln in Bezug auf alle Maßnahmen des Staates geltend machen können, die sie in ihrer grundrechtlich geschützten Freiheit nachteilig betreffen, ist das Klagerecht der Kommunen auf die sachliche Reichweite ihrer Selbstverwaltungsgarantie begrenzt. Diese Grenze kann auch durch die Bezugnahme auf das alles staatliche Handeln bindende Rechtsstaatsprinzip nicht durchbrochen werden. Vielmehr besteht ein durch die kommunale Verfassungsbeschwerde geltend zu machender Anspruch auf willkürfreies Handeln nur im Rahmen der Betroffenheit in eigenen Rechten.

{RN:136}
Soweit die Mehrheit im Gericht einen solchen allgemeinen Anspruch auf willkürfreies gesetzgeberisches Entscheiden annimmt und daraus die Antragsbefugnis herleitet, sprengt sie den Anwendungsbereich der kommunalen Verfassungsbeschwerde und modifiziert sie in Richtung eines allgemeinen Antragsrechts, mit dem die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards bei allen die Interessen der Gemeinden betreffenden gesetzgeberischen Maßnahmen geltend gemacht werden kann. Diese Ansicht hat in der Rechtsprechung anderer Landesverfassungsgerichte zu Recht keine Gefolgschaft erfahren (siehe Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urt. v. 20.10.1994, a. a. O., sowie Thüringer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 23.05.1996 - VerfGH 12/95 -, a. a. O., m. w. N.) und würde den Anwendungsbereich der kommunalen Verfassungsbeschwerde unkontrollierbar ausweiten.

{RN:137}
Aus allen diesen Gründen ist die kommunale Verfassungsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.
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Das Gericht

Der Sitz des Landesverfassungsgerichts ist Dessau-Roßlau.