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Urteil des Gerichtes

Entscheidungsvorblatt

Aktenzeichen: LVG 2/07 Entscheidungsart: Urteil Entscheidung vom: 26.06.2007
Verfahrensart Kommunalverfassungsbeschwerde
entscheidungserhebliche Vorschriften GG Art. 28 Abs 2
GG Art. 42 Abs 2
LSA-Verf Art. 2 Abs 1
LSA-Verf Art. 2 Abs 3
LSA-Verf Art. 46 Abs 2
LSA-Verf Art. 51 Abs 1 S 1
LSA-Verf Art. 75 Nr 7
LSA-Verf Art. 87 Abs 1
LSA-GOLdtg § 32 Abs 3
LSA-SOLdtg § 32 Abs 4
LSA-GOLdtg § 92
GOBdtg § 50
LSA-LEP
LSA-KreissitzG-Salzland
LSA-KomNeuglGrG § 3
LSA-KomNeuglGrG § 4
LSA-KomNeuglGrG § 6
LSA-LKGebNRG § 2
LSA-LKGebNRG § 12
Schlagworte Gebietsreform - Kreissitz - Landesentwicklungsprogramm - Raumordnung - Einwohnerzahl - System - Vergabesystem - Willkürverbot - Bindung - Kriterium - Ausnahme - Abweichung - Abwägung - Leitlinie - Oberzentrum - Mittelzentrum - Oberzentrum : Teilfunktion - Beschlussvorlage - Änderungsantrag - Gemeinwohl - Planung, überörtliche - Interesse, überörtliches - Aufklärung - Verhältnismäß0igkeit - Bestandsschutz - Rechtsschutzinteresse - Auswirkung, faktische - Recht, eigenes - Rechtsreflex - Frist - Fristbeginn - Gegenwärtigkeit - Selbstverwaltungsrecht - Gemeindehoheit - Gemeinschaft, örtliche - Planungshoheit - Planungsentscheidung - Aufgabenbereich - Rechtsstaatsprinzip - Kreissitzbestimmung - Organisationsrecht - Sonderopfer - Darlegung - Abstimmung - Beschlussfassung - Änderungsantrag - Änderungsantrag, weitergehender - Änderungsantrag, früherer - Änderungsantrag, mehrfacher - Reihenfolge - "Schweizer Verfahren" - Eingemeindung - Teileingemeindung - Gemeindegrenze, gemeinsame - Zweckverband - Bauleitplanung, vorbereitende - Kriterien-Bestandsschutz - Reformvorhaben, neues - Gestaltungsspielraum
Stichworte Urteil
Leitsatz 1. Prüfungsmaßstab für das Abstimmungsverfahren im Parlament ist nicht die Geschäftsordnung des Landtages, sondern allein die Verfassung. Offen bleibt, ob sich Kommunen bei einer Verfassungsbeschwerde darauf berufen können, beim Zustandekommen des sie vermeintlich belastenden Gesetzes sei das Mehrheitsprinzip der Verfassung verletzt 2. Liegt zu einer Gesetzesvorlage mehr als ein Änderungsantrag vor und kann keine Reihenfolge der Abstimmung nach dem Maßstab des „weiter gehenden Antrages“ festgelegt werden, so sind alle Abstimmungsmethoden verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, welche weder das Demokratie- noch das Mehrheitsprinzip verletzen. 3. Bindet sich der Landtag bei einer flächendeckenden Bestimmung von Kreissitzen an ein „System“, so ist ein einzelnes Kriterium nicht schon deshalb sachwidrig, weil es nur in einem einzigen Fall zur Anwendung gelangt; maßgeblich ist allein, ob das Kriterium auf einem sachlichen Grund beruht.
Fundstellen noch nicht in LVerfGE
Sonstiges -
Zitiervorschlag VerfGSA, Urteil vom 26.06.2007 - LVG 2/07 -,
www.verfassungsgericht-sachsen-anhalt.de

Urteil

in dem Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahren

LVG 2/07

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

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(Die grauen Ziffern über den Absätzen sind durchlaufende Absatznummern [Randnummern].)
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Tatbestand

{RN:1}
1. Die Beschwerdeführerin blieb nach § 9 Abs. 3 des Gesetzes zur Kreisgebietsreform vom 13.07.1993 (LSA-GVBl., S. 352) – LSA-KrsGebRefG –, zuletzt geändert durch Gesetz vom 09.11.1995 (LSA-GVBl., S. 324), Kreissitz des nach § 9 Abs. 1, 2 LSA-KrsGebRefG in seinen Grenzen veränderten Landkreises Schönebeck, die Stadt Bernburg blieb nach § 14 Abs. 3 LSA-KrsGebRefG Kreissitz des in seinen Grenzen veränderten Landkreises Bernburg, und die Stadt Aschersleben wurde nach § 19 Abs. 3 LSA-KrsGebRefG Kreissitz des nach § 19 Abs. 2 LSA-KrsGebRefG im Wesentlichen aus den Gemeinden der ehemaligen Landkreise Aschersleben und Staßfurt (§ 19 Abs. 1 LSA-KrsGebRefG) neu gebildeten Landkreises Aschersleben-Staßfurt. Das damalige Reformgesetz trat zum 01.07.1994 in Kraft (§ 37 LSA-KrsGebRefG).

{RN:2}
Das Gesetz über den Landesentwicklungsplan – LSA-LEP – vom 23.08.1999 (LSA-GVBl., S. 244), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.12.2005 (LSA-GVBl., S. 804), das am 01.05.1999 in Kraft trat (Nr. 7 LSA-LEP), legt Aschersleben, Bernburg und Schönebeck als Mittelzentren fest (Nr. 3.2.11., 1. Absatz LSA-LEP) und sieht für die Beschwerdeführerin in Zuordnung zum Oberzentrum Magdeburg Teilfunktionen eines Oberzentrums vor (Nr. 3.2.11., 2. Absatz LSA-LEP). Bei der Einordnung der Teilfunktion unterscheidet der Landesentwicklungsplan, ob es sich dabei um die Zuordnung zu einem Oberzentrum handelt oder ob diese Eigenschaft wegen der „Lage im räumlichen Siedlungsgefüge“ besteht (Nr. 3.2.11. LSA-LEP [S. 251]).

{RN:3}
Die Gebietsreform vollzog sich in drei Stufen.

{RN:4}
Das Gesetz über die Grundsätze für die Regelung der Stadt-Umland-Verhältnisse und die Neugliederung der Landkreise – Kommunalneugliederungs-Grundsätzegesetz (LSA-KomNeuglGrG) – vom 11.05.2005 (LSA-GVBl., S. 254, 601) enthält u. a. Grundsätze für die Neugliederung der Landkreise (§ 6), sieht vor, dass die kreisfreien Städte als Kerne einer Region wirtschaftlichen Wachstums und Schwerpunkte der Daseinsvorsorge gestärkt werden sollen (§ 1 Abs. 2), und verlangt zu diesem Zweck, vor allem für die vorbereitende Bauleitplanung, aber auch für weitere Aufgaben, Zweckverbände zu gründen (§ 2 Abs. 1, 2 mit Nr. 2 der Anlage). Von Eingemeindungen schließt das Gesetz Mittelzentren aus (§ 4 Abs. 1 S. 3); § 3 des Gesetzes lässt unter bestimmten Voraussetzungen Teileingemeindungen zu.

{RN:5}
Durch § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Kreisgebietsneuregelung – LSA-LKGebNRG – vom 11.11.2005 (LSA-GVBl., S. 692), geändert durch Gesetz vom 19.12.2006 (LSA-GVBl., S. 544), werden die Landkreise Aschersleben-Staßfurt, Bernburg und Schönebeck mit Ablauf des 30.06.2007 (§ 23 Abs. 2 LSA-LKGebNRG) aufgelöst, und durch § 2 Abs. 2 LSA-LKGebNRG wird mit Wirkung vom 01.07.2007 (§ 23 Abs. 3 LSA-LKGebNRG) aus deren Gemeinden (ohne die Stadt Falkenstein/Harz) ein neuer Landkreis Salzland gebildet.

{RN:6}
Wie in allen Neugliederungsfällen blieb die Regelung über den Kreissitz für den neuen Landkreis einem besonderen Gesetz vorbehalten (§ 12 Abs. 1 LSA-LKGebNRG).

{RN:7}
Im § 1 des zum 01.07.2007 in Kraft tretenden Gesetzes (§ 2) zur Bestimmung des Kreissitzes des Landkreises Salzland vom 20.12.2005 (LSA-GVBl., S. 767) – Salzland-Kreissitz-Gesetz – heißt es: „Kreissitz ... ist die Stadt Bernburg.“

{RN:8}
2. Ein erster Referentenentwurf, den der Landrat des Landkreises Schönebeck mit Schreiben vom 18.05.2005 zur Stellungnahme bis zum 15.06.2005 erhielt, sah in Anwendung von vier Vergabekriterien - darunter dem „Negativ-Kriterium“, es dürfe keine gemeinsame Grenze zu den Oberzentren Magdeburg bzw. Halle bestehen - als Kreissitz des neuen Landkreises im Gesetzesvorschlag die Stadt Bernburg, in der Begründung als Auswahl indessen die Beschwerdeführerin vor; weil ihr nach den Hauptkriterien der Vorrang zukomme; indessen wurde ihr über das „Negativ-Kriterium“ der Erfolg versagt, weil eine gemeinsame Grenze mit Magdeburg bestehe. Dieser Ausschluss sei notwendig, weil kein Kreissitz festgelegt werden solle, der evtl. spätere Maßnahmen im Stadt-Umland-Bereich rechtlich oder faktisch behindern könne. Über das Hilfskriterium der Einwohnerzahl wurde sodann Bernburg vor Aschersleben ausgewählt.

{RN:9}
Der Gesetzentwurf der Landesregierung für das Salzland-Kreissitz-Gesetz vom 29.06.2005 (LdTgDrs 4/2241) sah Bernburg als Kreissitz vor. In der allgemeinen Begründung ging die Landesregierung von vier Auswahlkriterien aus. Andere Kriterien zu verwenden, wurde abgelehnt. Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil für den Kreissitz im Landkreis Anhalt-Bitterfeld verwiesen, in welchem die jetzigen Bevollmächtigten die dortige Beschwerdeführerin vertreten haben (LVerfG LSA, Urt. v. 25.04.2007 - LVG 4/06 -, http://www.lverfg.justiz.sachsen-anhalt.de, RdNr. 10).
Das dritte Kriterium stellt (mit Einschränkungen bei Mittelzentren mit oberzentralen Teilfunktionen) auf die zentralörtliche Bedeutung, hilfsweise auf die Einwohnerzahl zu einem Stichtag ab. Das vierte Kriterium schließt bisherige Kreisstädte aus, die gemeinsame Grenzen mit einer kreisfreien Stadt (einem Oberzentrum) haben; dazu ist ausgeführt, die Kreisstadt solle das Versorgungszentrum des neuen Landkreises werden, was bei einem unmittelbaren Angrenzen an eine kreisfreie Stadt nur bedingt möglich sei, weil der Einzugsbereich des Oberzentrums den der angrenzenden Stadt überlagere.

{RN:10}
Im konkreten Fall behandelte die Vorlage Aschersleben und Bernburg als gleichrangige Mittelzentren und wählte Bernburg über das Hilfskriterium der größeren Einwohnerzahl aus. Die Beschwerdeführerin wurde wegen ihrer gemeinsamen Grenze mit Magdeburg nicht berücksichtigt.

{RN:11}
Der Änderungsantrag mehrerer Abgeordneter vom 07.07.2005 (LdTgDrs 4/2287) sprach sich für Schönebeck als neue Kreisstadt aus, weil durch das „Negativ-Kriterium“ der gesetzgeberische Spielraum objektiv willkürlich überschritten werde.

{RN:12}
In der ersten Beratung vom 07.07.2005 wurden die Gesetzentwürfe für alle Kreissitze an den Ausschuss für Inneres überwiesen.

{RN:13}
Dieser hörte in seiner Sitzung vom 21.09.2005 (Niederschrift zu TOP 2, Unterpunkt g [S. 80 ff.]) die Oberbürgermeister der Städte Aschersleben, Bernburg und Schönebeck (hier: den Vertreter des Behördenleiters), die Landräte der Landkreise Aschersleben-Staßfurt, Bernburg und Schönebeck sowie den Bürgermeister der Stadt Falkenstein (Harz) an.

{RN:14}
Für den Landkreis Salzland empfahl der Ausschuss für Inneres in seiner Sitzung vom 12.10.2005 (Niederschrift zu TOP 3, Unterpunkt h [S. 20]) entsprechend der Regierungsvorlage (mit sieben Stimmen bei sechs Enthaltungen) den Kreissitz Bernburg (LdTgDrs 4/2463 v. 02.11.2005).

{RN:15}
Mehrere Abgeordnete sprachen sich für Aschersleben als Kreissitz aus (LdTgDrs 4/2464 v. 02.11.2005), andere für Schönebeck (LdTgDrs 4/2486 v. 08.11.2005),

{RN:16}
Wegen des wesentlichen Inhaltes der ersten Beratung sowie wegen der Erklärungen der Fraktionen in der Ausschusssitzung vom 12.10.2005 wird auf die Parallelentscheidung in Sachen der Stadt Bitterfeld verwiesen (LVerfG LSA, Urt. v. 25.04.2007 - LVG 4/06 -, a. a. O., RdNrn. 14, 17). Auf dieses Urteil wird ferner Bezug genommen wegen des wesentlichen Inhaltes der allgemeinen Aussprache in der zweiten Beratung (a. a. O., RdNr. 20).

{RN:17}
In der speziell auf das Kreissitzgesetz für den Landkreis Salzland bezogenen Diskussion sprach sich der Abgeordnete Gürth [CDU] für Aschersleben als Kreissitz aus, weil nach dem Gesetzentwurf der Landesregierung der Identifikation der Einwohner Rechnung getragen und aktuell starke Gemeinden gestärkt werden sollten; außerdem sei Aschersleben gut erreichbar, habe bereits eine Gebietsreform durchgestanden und sei bei der Wirtschaftskraft Vorbild (LdTgStenBer 4/67 v. 10.11.2005, S. 4782). Der Abgeordnete Dr. Schellenberger [CDU] hielt Schönebeck für die richtige Entscheidung, weil diese Stadt die drei Hauptkriterien der Landesregierung erfülle; die Stadt habe den höheren raumordnerischen Rang und sei den beiden anderen Mittelzentren auch nach der Einwohnerzahl überlegen. Das „Negativ-Kriterium“ habe die Landesregierung „aus der Tasche gezaubert“, ohne dass es dafür einen plausiblen Grund gebe (a. a. O., S. 4782). Es komme hinzu, dass dieses ausschließende Kriterium allein auf Schönebeck angewendet werde; das sei ein Systembruch. Selbst hinsichtlich der Wirtschaftskraft, der Infrastruktur oder aus kultureller wie touristischer Sicht spreche Vieles für Schönebeck (a. a. O., S. 4783). Der Abgeordnete Prof. Dr. Spotka [CDU] hielt wegen der geschichtlichen Tradition, der Ballung von Industrie und mittelständischen Betrieben sowie wegen der Eigenschaft als Hochschulort Bernburg für die richtige Wahl. Entscheidend seien die zentrale Lage und die optimale Verkehrsanbindung Bernburgs. Bei der zentralörtlichen Stellung könne sich Schönebeck nicht auf die Teilfunktionen für ein Oberzentrum berufen, weil die Stadt diese Zuweisung nicht wegen ihrer eigenen Stellung im Siedlungsgefüge erhalten habe, sondern nur in Bezug auf das Oberzentrum Magdeburg. Der Vorteil der räumlichen Nähe zu einem Oberzentrum verkehre sich bei der Wahl des Kreissitzes in das Gegenteil (a. a. O., S. 4783).

{RN:18}
Anders als in den Fällen mit nur einem Änderungsantrag für eine konkurrierende Kreisstadt hatte sich der Ältestenrat des Landtages darauf verständigt, bei mehreren Änderungsanträgen ein sog. „Vorauswahlverfahren“ durchzuführen, bei dem die Abgeordneten in namentlicher Abstimmung entweder einen Namen der in einem Änderungsantrag genannten Stadt oder Nein oder Enthaltung notieren konnten, wobei dann der Änderungsantrag vorausgewählt sein sollte, der mehr Stimmen auf sich vereinige als alle anderen Vorschläge zusammen zuzüglich der gegen alle Vorschläge abgegebenen Nein-Stimmen; Stimmenthaltungen sollten unberücksichtigt bleiben (a. a. O., S. 4758 f.).

{RN:19}
So wurde sowohl im Fall des Landkreises Harz (a. a. O., S. 4779) als auch beim Landkreis Salzland (a. a. O., S. 4784) verfahren. Hier hatte die Vorauswahl das Ergebnis: 108 abgegebene, 107 gültige Stimmen; davon für Aschersleben 24, für Schönebeck 36, 20 Nein-Stimmen sowie 27 Enthaltungen. Im Ergebnis wurde festgehalten, keiner der beiden Änderungsanträge habe die erforderliche Mehrheit erhalten, der führende Antrag Schönebeck (36 Stimmen) deshalb nicht, weil ihm 44 Stimmen entgegenständen (24 Aschersleben- und 20 Nein-Stimmen).

{RN:20}
Der Landtag stimmte danach nur noch über die (unveränderte) Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres ab; es ergab sich bei einer Gegenstimme sowie mehreren Enthaltungen eine „ganz klare Mehrheit“ für die Ausschussempfehlung (a. a. O., S. 4784).

{RN:21}
3. Die Beschwerdeführerin hat am 20.03.2007 Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie rügt die Verletzung ihres Selbstverwaltungsrechtes durch die gesetzliche Bestimmung des Kreissitzes Bernburg im Gesetz vom 20.12.2005 (LSA-GVBl., S. 767), hält die Verfassungsbeschwerde für zulässig und begründet und macht im Wesentlichen - wegen der Einzelheiten wird auf die Beschwerdeschrift und auf den Schriftsatz vom 20.06.2007 Bezug genommen - geltend:

{RN:22}
Fehlerhaft sei bereits das Verfahren des Gesetzgebers bei der Abstimmung über die Änderungsanträge gewesen.

{RN:23}
Es sei zu keiner Abstimmung über den jeweiligen Änderungsantrag im Verhältnis zu der Beschlussempfehlung gekommen; damit sei bewusst die den Änderungsanträgen gleichwertige Beschlussempfehlung privilegiert worden, die schließlich allein zur Abstimmung gestanden habe. Eine solche Bevorzugung sei aber nicht bereits wegen der Stellung des Ausschusses geboten, wie die Landesregierung meine. § 32 Abs. 4 der Geschäftsordnung zeige vielmehr, dass bei Änderungswünschen nicht danach unterschieden werde, ob sie von Abgeordneten eingebracht oder vom Ausschuss empfohlen würden. Dies weiche von der Geschäftsordnung des Landtages ab, widerspreche dem verfassungsrechtlichen Mehrheitsprinzip und habe auch kein Vorbild in einer parlamentarischen Geschäftsordnung. Bei Mehrfach-Anträgen sei allenfalls das sog. „Schweizer Verfahren“ anerkannt, das seinen Niederschlag in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gefunden habe; danach müsse aber über alle Optionen gleichzeitig abgestimmt und für den Fall, dass kein Antrag die Mehrheit erhalte, eine Auswahl durch „Stichentscheid“ zwischen den beiden Anträgen mit der höchsten Stimmzahl getroffen werden. Im Fall mehrerer Änderungsanträge, deren Rang nach dem Kriterium „weiter gehend“ nicht bestimmt werden könne, gelte sonst ersatzweise das Eingangsprinzip. Deshalb habe zunächst über den Änderungsantrag Aschersleben mit der Folge abgestimmt werden müssen, dass bei dessen Ablehnung der Schönebeck-Antrag als zweiter eine Chance gehabt hätte, nunmehr die Mehrheit zu erhalten und der Beschlussempfehlung gegenübergestellt zu werden. Es sei nicht ausgeschlossen, dass er sich dann gegenüber der Beschlussempfehlung durchgesetzt hätte.

{RN:24}
Der Gesetzgeber habe ferner seine Sachaufklärungspflichten verletzt. Diese seien nicht davon abhängig, wie viele Sachverhalte er seiner Entscheidung zugrunde lege. Der Umfang der Sachaufklärung richte sich vielmehr nach dem sachlichen Prüfungsumfang, hier nach den überörtlichen Interessen bei der Kreissitzvergabe. Aus diesen seien die einzelnen Kriterien entwickelt. Die verfassungsrechtliche Kontrolle müsse sich deshalb vor allem auch darauf erstrecken, ob die Vergabe der neuen Kreissitze dem öffentlichen Interesse entspreche.

{RN:25}
Die Auswahl Bernburgs als Kreissitz sei auch materiell-rechtlich zu beanstanden.

{RN:26}
Die Beschwerdeführerin habe schon deshalb ausgewählt werden müssen, weil sie raumordnerisch gegenüber ihren Konkurrentinnen den höheren Rang habe. Bei den Teilfunktionen eines Oberzentrums sei die von der Landesregierung vorgenommene Differenzierung willkürlich. Die Beschwerdeführerin nehme auch tatsächlich Funktionen eines Oberzentrums wahr.

{RN:27}
Das „Negativ-Kriterium“ der gemeinsamen Grenze mit einem Oberzentrum überschreite den dem Gesetzgeber zustehenden Gestaltungsspielraum. Es sei untauglich, weil die verfolgten Ziele nicht erreicht werden könnten; das zeige schon der Umstand, dass die Begründung bei den Regierungsvorlagen gewechselt habe. Außerdem sei der Sachverhalt dazu nicht zutreffend und umfassend ermittelt worden. Das überörtliche Interesse bleibe mehr als verschwommen. Es dränge sich auf, dass der Gesetzgeber mehr das Ergebnis als die vorgebrachten gemeinwohlorientierten Gründe gewollt habe. Im Salzlandkreis habe der Gesetzgeber zu Lasten Schönebecks andere Wertungen vorgenommen als bei Merseburg im Saalelandkreis. Ob eine Stadt Versorgungszentrum werden könne, sei nicht von einer gemeinsamen Grenze mit einer anderen Gemeinde abhängig.

{RN:28}
Schönebeck habe sich seit der Eingemeindung von Frohse und Bad Salzelmen zu einem eigenständigen, von Magdeburg deutlich zu unterscheidenden Versorgungsschwerpunkt entwickelt. Sowohl das Rechtsgutachten von 1928 zu Eingemeindungsfragen von Prof. Dr. Stier-Somlo als auch Untersuchungen der Arbeitsgemeinschaft Prof. Dr. Turowski und Dr. Stefan Greiving von 2001 zu Verflechtungsbeziehungen ergäben keine Aussichten auf einen Bebauungszusammenhang zwischen Magdeburg-Süd und Schönebeck(-Nord). Eine Eingemeindung sei kraft Gesetzes ausgeschlossen. Es werde nicht ersichtlich, dass Aufgaben eines Zweckverbandes durch den Kreisstadtstatus der Beschwerdeführerin behindert werden könnten. Die Entfernung zwischen der Mitte des Oberzentrums zum Mittelzentrum sei bei Schönebeck und Merseburg fast identisch. Diese sei Kreisstadt geworden, obwohl Bebauungszusammenhänge mit dem Oberzentrum Halle über die Gemeinde Schkopau vermittelt würden. Ähnlich nahe an einem Oberzentrum liege auch die als Kreissitz bestimmte Stadt Köthen. Das „Negativ-Kritierium“ diene deshalb allein dazu, die Beschwerdeführerin als Kreissitz auszuschließen.

{RN:29}
Die jetzige Neugliederung der Kreisebene habe ferner andere Kriterien verwendet, als für die frühere, noch nicht dreißig Jahre zurück liegende Kreisreform von 1993/94 gegolten hätten; damals sei der Kreissitz in erster Linie nach Größe und Wirtschaftskraft einerseits und andererseits nach der zentralörtlichen Funktion vergeben worden. Diese Grundsätze müssten weiter gelten, weil es sich der Sache nach um eine „Mehrfach-Neugliederung“ handele. Die Beschwerdeführerin genieße insoweit „Bestandsschutz“.

{RN:30}
Außerdem sei das Kriterium „Stärkung der Stärksten“ fehlerhaft umgesetzt.
Schließlich sei gegen das Abwägungsgebot verstoßen worden.

{RN:31}
Die Beschwerdeführerin beantragt,
festzustellen, dass § 1 des Gesetzes zur Bestimmung des Kreissitzes des Landkreises Salzland vom 20. Dezember 2005 (LSA-GVBl. S. 767) mit dem in Art. 2 Abs. 3 und Art. 87 der Landesverfassung garantierten Recht auf kommunale Selbstverwaltung unvereinbar und nichtig ist, soweit es die Stadt Bernburg und nicht die Stadt Schönebeck zum Kreissitz bestimmt.

{RN:32}
4. Die Stadt Bernburg hält die Verfassungsbeschwerde bereits für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet und macht dazu geltend:
Nach dem Kriterienkatalog komme Schönebeck als Kreisstadt nicht in Betracht. Das maßgebliche vierte Kriterium diene nicht dazu, die Beschwerdeführerin auszuschließen. Auf eine Gewichtung der Kriterien komme es nicht an; deshalb sei unerheblich, ob Schönebeck bereits wegen eines raumordnerisch höheren Ranges zu bevorzugen gewesen wäre.

{RN:33}
5.1. Der Landtag hat am 26.04.2007 beschlossen, keine Stellungnahme abzugeben.

{RN:34}
5.2. Die Landesregierung, auf deren Stellungnahme wegen der Einzelheiten verwiesen wird, führt im Wesentlichen aus:

{RN:35}
Die Verfassungsbeschwerde sei - unabhängig davon, dass sie nicht zulässig sei, auch insoweit - nicht statthaft, als die Verletzung des Mehrheitsprinzips gerügt werde; denn dabei handele es sich um objektives Verfassungsrecht, das nicht dem Schutz der kommunalen Belange diene.

{RN:36}
Die Verfassungsbeschwerde sei überdies unbegründet.

{RN:37}
Die Beschwerdeführerin könne keine unzureichende Sachverhaltsermittlung rügen.

{RN:38}
Die Beschlussfassung über den Kreissitz Bernburg verstoße nicht gegen das Mehrheitsprinzip. Das sei unzweifelhaft, soweit über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres abgestimmt worden sei, gelte aber auch für die Behandlung der Änderungsanträge.

{RN:39}
Die besondere Bedeutung der Beschlussempfehlung folge aus der Stellung der Ausschüsse in der parlamentarischen Tradition. Der Ausschussempfehlung komme im Abstimmungsverfahren besonderes Gewicht zu. Es sei nicht notwendig gewesen, vor Eintritt in das Abstimmungsverfahren über die Änderungsanträge ausdrücklich zu fragen, ob Widerspruch gegen das besondere Verfahren erhoben werde; denn der Ältestenrat habe sich auf dieses Verfahren verständigt. Dieses sei auch nicht manipulativ gewesen; denn es habe jedenfalls bei der Schlussabstimmung die Möglichkeit bestanden, durch Abgabe einer Nein-Stimme die Mehrheit für Bernburg und damit für die Beschlussempfehlung zu verhindern. Die Abweichung von der Geschäftsordnung halte sich innerhalb der Autonomie des Landtages. Die beiden Änderungsanträge hätten ungeachtet ihres Einganges gleich behandelt werden sollen. Dass ein anderes Verfahren als nach der Geschäftsordnung des Bundestages gewählt worden sei, bleibe ohne Bedeutung; denn es bestehe kein Zwang, auf die Regeln des Bundesparlamentes zurückzugreifen.

{RN:40}
Das Ergebnis sei auch materiell nicht zu beanstanden.

{RN:41}
Die für die Kreissitzvergabe geeigneten Kriterien habe der Landtag seinen Entscheidungen im Ergebnis zugrunde gelegt. Die Beschwerdeführerin sei nicht schon wegen ihrer Stellung im System der zentralen Orte zu bevorzugen gewesen. Sie habe jedenfalls wegen ihrer gemeinsamen Grenze mit dem Oberzentrum Magdeburg nicht berücksichtigt werden können. Dieses „Negativ-Kriterium“ sei im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens mehrfach diskutiert worden. Der Landtag habe es jedoch im Ergebnis mit Mehrheit abgelehnt, diesen Gesichtspunkt außer Acht zu lassen. Schon weil der Gesetzgeber seine Entscheidungen nicht begründen müsse, könne die Beschwerdeführerin nicht mit Erfolg rügen, dass die Begründung für das „Negativ-Kriterium“ im Verfahrensgang ausgewechselt worden sei.

{RN:42}
Das Kriterium sei auch sachgerecht; denn die gemeinsame Grenze mit einem Oberzentrum indiziere eine besondere räumliche Nähe, welche eine Überlagerung der Einzugsbereiche des Mittelzentrums einerseits und des Oberzentrums andererseits begünstige. Das Verbot einer Eingemeindung des Mittelzentrums insgesamt schließe Maßnahmen nach § 3 LSA-KomNeuglGrG nicht aus, der Teileingemeindungen erlaube. Das bloße Abstellen auf die Grenze ermögliche eindeutige Entscheidungen und verhindere die Heranziehung weiterer Parameter wie Verflechtungsbeziehungen oder die räumliche Entfernung. Dadurch würden weitere Untersuchungen überflüssig.

{RN:43}
Mit dem Fall Merseburg lasse sich die Situation nicht vergleichen; denn diese Stadt sei die einzige für den Kreissitz in Betracht kommende Gemeinde im Saalekreis gewesen. Ebenso wenig werde die Beschwerdeführerin verglichen mit Halberstadt ungleich behandelt; denn die Teilfunktionen eines Oberzentrums seien Halberstadt wegen seiner Lage im räumlichen Siedlungsgefüge beigelegt worden, der Beschwerdeführerin hingegen nur mit Bezug auf Magdeburg.

{RN:44}
Die Auswahl Bernburgs verletze den Grundsatz der „Stärkung der Stärksten“ nicht.
Schließlich könne sich die Beschwerdeführerin nicht auf Grundsätze berufen, welche bei der Kreisgebietsreform 1993 gegolten hätten.

{RN:45}
6. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Regierungsvorlage zum hier streitigen Kreissitzgesetz (LdTgDrs 4/2241), den Änderungsantrag mehrerer Abgeordneter dazu (LdTgDrs 4/2287), die Niederschriften über die beiden Beratungen der Kreissitzgesetze im Plenum (LdTgStenBer 4/61 und 4/67), die Niederschriften des befassten Ausschusses für Inneres (vom 21.09. und vom 12.10.2005) und dessen Beschlussempfehlung (LdTgDrs 4/2463) sowie die Änderungsanträge dazu (LdTgDrs 4/2464 und 4/2486), die beiden Vermerke der Landtagsverwaltung vom 02.11.2005 und vom 06.11.2005 sowie auf die Niederschrift über die öffentliche Sitzung vom 25.06.2007 Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

{RN:46}
Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).

{RN:47}
1. Wegen der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden ehemaliger Kreisstädte gegen die Entscheidung für einen anderen Kreissitz wird auf die Ausführungen in den Urteilen vom 25.04.2007 - LVG 4/06 - (http://www.lverfg.justiz.sachsen-anhalt.de, RdNrn. 52 ff.) und - LVG 6/06 - (http://www.lverfg.justiz.sachsen-anhalt.de, RdNrn. 45 ff.) sowie auf das jeweilige Sondervotum zu ihnen Bezug genommen.

- Die Entscheidung zur Zulässigkeit ist mit fünf gegen zwei Stimmen ergangen. -

{RN:48}
Die Verfassungsbeschwerde ist - entgegen der Ansicht der Landesregierung - nicht teilweise unstatthaft und deshalb in diesem Umfang unzulässig, soweit die Beschwerdeführerin formell das Gesetzgebungsverfahren beanstandet; denn der Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist nicht teilbar, sondern betrifft einheitlich die Entscheidung über den Kreissitz, dessen Auswahl die Beschwerdeführerin lediglich aus mehreren - formellen wie materiellen - Gründen beanstandet.


{RN:49}
2. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht begründet; denn die Entscheidung des Gesetzgebers, die Beschwerdeführerin nicht zum Kreissitz zu bestimmen, ist verfassungsrechtlich weder formell (2.1.) noch materiell (2.2.) zu beanstanden.

{RN:50}
2.1. Das angegriffene Kreissitzgesetz ist nicht aus formellen Gründen verfassungswidrig. Die Rüge der Beschwerdeführerin hat weder in Bezug auf das Verfahren vor der Beschlussfassung (2.1.1.) noch hinsichtlich der Behandlung der Änderungsanträge (2.1.2.) Erfolg.

{RN:51}
2.1.1. Die Beschwerdeführerin beanstandet zu Unrecht den Umfang der vom Landtag geleisteten Sachaufklärung; denn diese bezieht sich - wie bereits entschieden ist (LVerfG LSA, Urt. v. 25.04.2007 - LVG 4/06 -, a. a. O., RdNrn. 68 ff.) - nur auf solche Tatsachen, welche der Gesetzgeber seiner Entscheidung zugrunde legt. Schon der Referentenentwurf, vor allem aber der Gesetzentwurf der Landesregierung stellte erkennbar lediglich auf die in der allgemeinen Begründung benannten Kriterien ab. Die Beschwerdeführerin rügt aber kein Ermittlungsdefizit innerhalb des Kriteriensystems, sondern will weitere Gesichtspunkte in der Sache verwertet wissen. Das kann sie mit einer Aufklärungsrüge nicht erreichen.

{RN:52}
Das gilt auch, soweit es die Beschwerdeführerin in der Sache für notwendig hält, auf die Abwägungskriterien der Kreisgebietsreform 1993/94 für die Kreissitzbestimmung bei dem gegenwärtigen Reformvorhaben zurückzugreifen. Hier rügt die Beschwerdeführerin über einen vermeintlichen Verfahrensverstoß gleichfalls eine materiell andere Wertung und macht einen „Bestandsschutz“ in Ansehung der früheren Leitlinien geltend.

{RN:53}
Gleiches gilt schließlich, soweit die Beschwerdeführerin die Begründung für das „Negativ-Kriterium“ angreift; denn die Eignung dieses Gesichtspunktes ist eine materielle Frage. Nach seiner Rechtsauffassung musste der Landtag keine weiteren Erhebungen über Verflechtungen oder über räumliche Entfernungen anstellen.

{RN:54}
2.1.2. Es kann unentschieden bleiben, ob die Beschwerdeführerin die Rüge erheben darf, der Landtag habe bei seiner Entscheidung gegen das Mehrheitsprinzip der Verfassung verstoßen (2.1.2.1.); denn das beanstandete Kreissitzgesetz ist verfassungsgemäß zustande gekommen (2.1.2.2.).

{RN:55}
2.1.2.1. Das Landesverfassungsgericht lässt die zwischen den Beteiligten streitige Frage offen, ob sich die Beschwerdeführerin auf einen Verstoß gegen die Verfassung berufen kann, soweit das Verfahren der Abstimmung über die Änderungsanträge in Frage steht.

{RN:56}
Für die Statthaftigkeit dieser Rüge mag immerhin sprechen, eine Beschwer könne gerade auch darin liegen, dass das eingreifende Gesetz an einem formellen Mangel leide; damit hätte der formelle Verstoß gleiches Gewicht wie ein Anhörungs- oder Aufklärungsmangel. Dagegen mag einzuwenden sein, das Abstimmungsverfahren als solches sei ein Internum des Landtages, habe deshalb keine Außenwirkung und könne nur von den am Gesetzgebungsverfahren beteiligten, mit eigenen Rechten ausgestatteten Teilen des Landtages angegriffen werden (vgl. zum Umfang des Prüfungsmaßstabes bei der kommunalen Verfassungsbeschwerde BVerfG, Beschl. v. 15.10.1985 - 2 BvR 1808–1810/82 -, BVerfGE 71, 25 [37]; Hömig, in: Hömig [Hrsg.], Grundgesetz, 8. Aufl., Art. 93 RdNr. 31; Sturm, in: Sachs [Hrsg.], Grundgesetz, 4. Aufl., Art. 93 RdNr. 101). Das folgt allerdings nicht notwendig schon daraus, dass es sich bei Art. 51 Abs. 1 der Landesverfassung – LSA-Verf – vom 23.08.1993 (LSA-GVBl., S. 441), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27.01.2005 (LSA-GVBl., S. 44), wie bei der inhaltsgleichen Bestimmung des Grundgesetzes (Art. 42 Abs. 2 GG) um bloß „objektives Recht“ handelt (dazu BVerfG, Urt. v. 07.03.1953 - 2 BvE 4/52 -, BVerfGE 2, 143 [161]). Ob damit in einem Verfahren nach Art. 75 Nr. 7 LVerf ein subjektiver Kontrollanspruch aus Art. 2 Abs. 3; 87 LSA-Verf korrespondiert, hängt davon ab, wie weit das Selbstverwaltungsrecht reicht, und könnte dann aus ähnlichen Gründen in Zweifel gezogen werden wie die Frage der Zulässigkeit der kommunalen Verfassungsbeschwerde einer ehemaligen Kreisstadt gegen die Vergabe des Kreissitzes für einen neuen Landkreis bei einer Gebietsreform (vgl. dazu oben Abschn. 1, m. w. Nachw.).

{RN:57}
2.1.2.2. Die von der Landesregierung aufgeworfene Frage muss indessen nicht beantwortet werden, weil das Abstimmungsverfahren jedenfalls am Maßstab des Art. 51 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf nicht zu beanstanden ist.

{RN:58}
Die Beschwerdeführerin räumt selbst ein, dass evtl. Verstöße allein gegen die Geschäftsordnung des Landtages ([der vierten Wahlperiode:] vom 16.05.2002 - LdTgDrs 4/1/1 B -, zuletzt geändert durch Beschl. v. 14.11.2002 - LdTgDrs 4/9/324 B; inzwischen [der 5. Wahlperiode:] Beschl. v. 26.04.2006 - LdTgDrs 5/1/1 B -, zuletzt geändert durch Beschl. v. 24.04.2006 -, LdTgDrs 5/1/11 B) – GO-LT – die Verfassungswidrigkeit des Verfahrens nicht begründen können, weil das autonome Recht des Landtages (vgl. Art. 46 Abs. 1 LSA-Verf) keinen der Verfassung selbst gleichwertigen Rang hat; diese ist hier allein Prüfungsmaßstab.

{RN:59}
Es liegt aber kein Verstoß gegen das Mehrheitsprinzip des Art. 51 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf vor, an welchem die Autonomie des Landtages bei der Gestaltung und der Anwendung seiner Geschäftsordnung seine Grenze findet (a. A. wohl Mahnke, Die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt, Art. 51 RdNr. 5). Zwar erfordert das demokratische Prinzip (vgl. Art. 2 Abs. 1 LSA-Verf) auch einen angemessenen - auch verfahrensrechtlichen - Schutz der Minderheit. Minderheit in diesem Sinne ist aber nicht jede Abstimmungsminderheit (Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 39. Lfg., Juli 2001, Art. 42 RdNr. 94). Dem Minderheitenschutz ist genügt, wenn die Minderheit ihren Willen in den Willensbildungsprozess des Parlamentes einbringen kann (BVerfG, Urt. v. 14.01.1986 - 2 BvE 14/83, 4/84 -, BVerfGE 70, 324 [363]; Sachs, in: Sachs, a. a. O., Art. 20 RdNr. 26).

{RN:60}
Die allgemeine Regel, wonach die Verfassung für einen Beschluss des Landtages grundsätzlich die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen verlangt, wobei Enthaltungen und ungültige Stimmen nicht mitzählen (Mahnke, a. a. O., Art. 51 RdNr. 3; a. A. Reich, a. a. O., Art. 51 RdNr. 1 [S. 240]; wie hier: Klein, in: Maunz/Dürig, a. a. O., Art. 42 RdNr. 84; Morlock, in: Dreier [Hrsg.], Grundgesetz, 2. Aufl., Art. 42 RdNr. 34; Magiera, in: Sachs, a. a. O., Art. 42 RdNr. 10; Schneider, in: AK-GG, 3. Aufl., 2. AufbauLfg. 2002, Art. 42 RdNr. 12; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 6. Aufl., Art. 42 RdNr. 4), gilt indessen nur für Alternativ-Vorlagen, die eine Entscheidung mit Ja oder Nein verlangen. Davon zu unterscheiden ist der Fall, dass mehrere Optionen zur Auswahl stehen; dann genügt zur Beschlussfassung eine Stimmenzahl, die höher ist als die Zahl der jeweils auf andere Optionen entfallenden Stimmen (Klein, a. a. O., RdNr. 83).

{RN:61}
Von einem solchen Sonderfall ist für die Abstimmung über die hier streitigen Änderungsanträge auszugehen. Das vom Landtag hierbei eingeschlagene Verfahren verstieß nicht gegen das Mehrheitsprinzip der Verfassung (Art. 51 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf).

{RN:62}
Eine Entscheidung nach den allgemeinen Grundsätzen war nicht möglich, weil der Beschlussempfehlung anders als im Normalfall mehr als ein Änderungsantrag gegenüber stand, ohne dass sich eine Reihenfolge für Einzelabstimmungen über die Änderungsanträge bilden ließ (vgl. § 32 Abs. 3 GO-LT 2002 [= GO-LT 2006], der bei mehreren, sich gegenseitig ausschließenden Änderungsanträgen verlangt, dass zunächst über denjenigen abgestimmt wird, der sich „von dem Gesetzentwurf weiter entfernt“). Hier waren die Abweichungen beider Änderungsanträge gleich weit von dem Gesetzentwurf der Landesregierung und von der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres entfernt. Die Bildung einer Reihenfolge nach dem Zeitpunkt des Antragseinganges ist weder durch Art. 51 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf verlangt noch in der Geschäftsordnung vorgesehen, mag auch „gewohnheitsrechtlich“ gelegentlich so verfahren worden sein (vgl. Vermerk der Landtagsverwaltung vom 02.11.2005, Nr. 3 Buchst. B [S. 3]). Selbst dann wäre zweifelhaft gewesen, welcher Änderungsantrag als der frühere zu gelten hatte; denn obwohl der Antrag zu Gunsten Schönebecks auf die Beschlussempfehlung hin später datiert als derjenige für Aschersleben, könnte er als bloße Wiederholung eines bereits früher auf die Gesetzesvorlage der Landesregierung hin gestellten Antrages bewertet werden.

{RN:63}
Bei dieser Ausgangslage war der Landtag frei, entsprechend § 92 GO-LT 2002 (= GO-LT 2006) von den Bestimmungen des § 32 GO-LT abzuweichen bzw. diese für einen Sonderfall zu ergänzen; denn das Mehrheitsprinzip des Art. 51 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf verlangt keine Anwendung eines bestimmten Abstimmungsverfahrens wie etwa desjenigen des Deutschen Bundestages in Sonderfällen (§ 50 seiner Geschäftsordnung). Verfassungsgemäß sind vielmehr alle Abstimmungsverfahren, die Art. 51 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf nicht verletzen.

{RN:64}
Bei dem gewählten Abstimmungsverfahren hat der Landtag somit den Grundsatz der Mehrheitsbildung nicht verfälscht und deshalb nicht gegen Art. 51 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf verstoßen. Die Abgeordneten, welche eine abweichende Ansicht vertraten, waren nicht gehindert, im Willensbildungsprozess des Landtages ihren Vorstellungen Geltung zu verschaffen.

{RN:65}
Das belegt - worauf die Landesregierung zu Recht hinweist - das Ergebnis der (Schluss-)Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres, die mit dem Gesetzentwurf der Landesregierung übereinstimmt. Diejenigen Abgeordneten, die sich mit dem Ergebnis der „Vorauswahl“ nicht hatten abfinden wollen, weil sie entweder für Aschersleben oder für Schönebeck eintraten, hatten die Möglichkeit, durch eine Nein-Stimme bei der Schlussabstimmung die Mehrheit i. S. des Art. 51 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf für Bernburg zu verhindern und damit die neue Behandlung der Kreissitzfrage zu erzwingen.

{RN:66}
Unabhängig davon hielt sich der Landtag innerhalb seiner allein durch die Verfassung begrenzten Geschäftsordnungsautonomie, wenn er in diesem Fall davon ausging, Grundlage der zweiten Beratung und Abstimmung sei nach wie vor der eingebrachte Gesetzentwurf, weil die Beschlussempfehlung des Landtagsausschusses keine Änderungen vorgenommen hatte und deshalb nicht ihrerseits als mit den beiden anderen konkurrierender Änderungsantrag angesehen werden musste. Dabei bleibt verfassungsrechtlich ohne Bedeutung, ob auch eine Beschlussempfehlung als Änderungsantrag zu werten ist, wenn und soweit sie von dem ursprünglichen Gesetzentwurf abweicht (§ 32 Abs. 4 GO-LT 2002 [= 2006]; vgl. insoweit auch Vermerk der Landtagsverwaltung vom 06.11.2007, Nr. 2 Buchst. a [S. 1]). Gerade weil die Beschlussempfehlung mit der Gesetzesvorlage übereinstimmte, bestand jedenfalls bei der hier zu beurteilenden Konstellation keine Gleichwertigkeit zwischen der vom Ausschuss vorgeschlagenen Variante Bernburg mit den durch die Änderungsanträge verlangten beiden anderen Orten. Danach war nicht - wie es die Beschwerdeführerin verlangt - über drei Varianten (Aschersleben, Bernburg oder Schönebeck) abzustimmen, sondern nur über die Alternative darüber, ob dem Gesetzentwurf in der Fassung der Beschlussempfehlung überhaupt ein Änderungsverlangen gegenüberzustellen war.

{RN:67}
Das vom Landtag gewählte Verfahren, das gerade keine Reihenfolge bei den Änderungsanträgen verlangte, hatte den Vorzug, beide Änderungsanträge gleichwertig zu behandeln, ohne dass es von der Frage, über welchen Antrag zuerst abgestimmt wird, abhing, welche Mehrheiten sich bei Kenntnis des Ergebnisses der ersten Abstimmung dann bei der zweiten Abstimmung gebildet hätten. Die Wahrscheinlichkeit, für einen der Änderungsanträge bei getrennter Abstimmung eine Mehrheit zu finden, ist - gerade nach der Ansicht der Beschwerdeführerin - davon abhängig, welcher Antrag zuerst zur Abstimmung gelangt. Die Beschwerdeführerin rechnet mit einer Mehrheit deshalb, weil sie davon ausgeht, dass der Änderungsantrag zu ihren Gunsten wahrscheinlich Erfolg gehabt hätte, wenn dieser als zweiter zur Abstimmung gelangt wäre. Im umgekehrten Fall hätte sich dann aber wohl ein gleicher Vorteil für Aschersleben ergeben können.

{RN:68}
Legt man den Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit zugrunde und berücksichtigt man, dass nur die Frage zu entscheiden war, ob der Gesetzentwurf in seiner ursprünglichen oder in einer geänderten Fassung hatte Gesetz werden sollen, dann ist das vom Landtag gewählte „Vorauswahlverfahren“ jedenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es hatte allein zum Gegenstand, ob überhaupt eine Änderung des Gesetzentwurfes zur Debatte stand, und es durfte dann in Wahrung der Grundsätze über die Mehrheitsbildung gerade auch verlangen, dass es nicht allein auf die Zahl der Ja-Stimmen für die zur (Vor-)Auswahl gestellten Varianten ankam, sondern dass auch die Nein-Stimmen berücksichtigt wurden, die sich gegen jegliche Änderung des Gesetzentwurfes in der Fassung der Beschlussvorlage aussprachen.

{RN:69}
Bei diesem Ergebnis ist nicht zu entscheiden, ob auch ein Verfahren mit Art. 51 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf vereinbar gewesen wäre, das nach dem Vorbild des Deutschen Bundestages alle drei Orte zur Abstimmung gestellt und notfalls eine „Stichwahl“ unter den beiden bestplatzierten vorgesehen hätte; denn jedenfalls ist eine solche Handhabung in einem Sonderfall wie dem vorliegenden nicht durch Art. 51 Abs. 1 S. 1 LSA-Verf geboten.

{RN:70}
Schließlich bleibt ohne Bedeutung, ob die Sitzungsleitung vor dem Eintritt in die Abstimmung über die Änderungsanträge hätte fragen müssen, ob sich gegen das vom Ältestenrat vorbereitete abweichende Verfahren Widerspruch erhebt; denn insoweit käme allein ein Verstoß gegen die Geschäftsordnung des Landtages in Betracht, die nicht Prüfungsmaßstab ist.

{RN:71}
2.2. Die Kreissitzentscheidung für die Stadt Bernburg ist auch in der Sache nicht zu beanstanden.

{RN:72}
Sie ist - aus den gleichen Gründen, wie bereits im Parallelfall für den Landkreis Anhalt-Bitterfeld entschieden worden ist (vgl. dazu LVerfG LSA, Urt. v. 25.04.2007 - LVG 4/06 -, a. a. O., RdNrn. 73 ff.) - durch überörtliche Interessen gerechtfertigt und verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; sie ist „systemgerecht“ sowie auch im Übrigen „willkürfrei“ (2.2.1.); die Beschwerdeführerin kann keinen Bestandsschutz für sich in Anspruch nehmen (2.2.2.) oder mit Erfolg eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes rügen (2.2.3.).

{RN:73}
2.2.1. Die Entscheidung für die Stadt Bernburg und damit notwendigerweise gegen die Beschwerdeführerin beruht im Ergebnis auf einem „Vergabesystem“ des Gesetzgebers, das keiner Ergänzung bedarf (2.2.1.1.). Die Beschwerdeführerin rügt ohne Erfolg die Verfassungswidrigkeit des „Negativ-Kriteriums“ der gemeinsamen Grenze mit einem Oberzentrum (2.2.1.2.). Nach dem Kriterienkatalog kommt sie als Kreissitz nicht in Betracht (2.2.1.3.).

{RN:74}
2.2.1.1. Der Gesetzgeber kann seinen Gestaltungsspielraum jedenfalls im Bereich der kommunalen Neuordnung selbst durch ein geeignetes „System“ binden; dies ist durch Übernahme der in der Regierungsvorlage genannten Entscheidungskriterien geschehen (s. zu diesen Grundsätzen LVerfG LSA, Urt. v. 25.04.2007 - LVG 4/06 -, a. a. O., RdNrn. 80 ff.). Dieses ist mit überörtlichen Interessen vereinbar, weil es insgesamt als „Vergabesystem“ nicht zu beanstanden ist.

{RN:75}
Auch bei der Entscheidung für den Landkreis Salzland sind, nachdem der Ausschuss für Inneres die Regierungsvorlage für den Kreissitz Bernburg mit der amtlichen Begründung gebilligt hatte, die „Kriterien“ für die Kreissitzvergabe nicht verändert oder in Frage gestellt worden.

{RN:76}
In der konkreten Debatte über den Kreissitz in diesem Landkreis haben sich die Sprecher für die Varianten Bernburg und Schönebeck auf die Regierungsvorlage bezogen (LdTgStenBer 4/67 v. 10.11.2005, S. 4782 f.); zu Gunsten der Beschwerdeführerin wurden gleichwertig die Stellung nach dem System der zentralen Orte sowie die Einwohnerzahl nach dem Hilfskriterium ins Feld geführt und die Anwendbarkeit des „Negativ-Kriteriums“ der gemeinsamen Grenze mit dem Oberzentrum Magdeburg bezweifelt (a. a. O., S. 4782). Der Debattenbeitrag für Aschersleben ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung.

{RN:77}
Das Ergebnis wird auch bei dieser Kreissitzvergabe dadurch bestätigt, dass von der Mehrheit die Vorlage des Ausschusses für Inneres gebilligt worden ist, der wiederum - ungeachtet der Ankündigungen für das Abstimmungsverhalten der Fraktionen in der abschließenden Beratung - die Annahme der Regierungsvorlage empfohlen hatte.

{RN:78}
Die von der Landesregierung erarbeiteten und vom Landtag im Ergebnis nicht in Frage gestellten „Haupt-Kriterien“ sind geeignet, die Kreissitzvergaben zu steuern; sie bedurften keiner Ergänzung. Das gilt - wie im Parallelfall entschieden worden ist (LVerfG LSA, Urt. v. 25.04. 2007 - LVG 4/06 -, a. a. O., RdNrn. 89 ff.) - für die drei „Positiv-Kriterien“.

{RN:79}
2.2.1.2. Auch das „Negativ-Kriterium“ hält sich entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin im Rahmen des dem Gesetzgeber zustehenden Gestaltungsspielraumes.

{RN:80}
Für die Rechtfertigung ist in erster Linie auf die Begründung abzustellen, welche Gegenstand des Gesetzgebungsverfahrens gewesen ist. Sie ist nicht zu beanstanden; denn sie geht davon aus, dass das Oberzentrum mit seinen Aufgaben jedenfalls auf solche Gemeinden ausstrahlt, die unmittelbar an die kreisfreie Stadt grenzen. Dem liegt ein ähnlicher Gedanke zugrunde wie beim zweiten Kriterium, das insbesondere ausschließt, den Sitz einer Kreisverwaltung (wie bislang für den Saalkreis) in der angrenzenden kreisfreien Stadt (bislang Halle/S) festzulegen; danach muss die neue Kreisstadt innerhalb des neuen Kreisgebietes liegen. Hiermit korrespondiert die Überlegung, die neue Kreisstadt solle ein möglichst eigenständiges Versorgungszentrum für den Landkreis werden, wobei vermutet wird, dies gelinge leichter, wenn die neue Kreisstadt außerhalb des Einwirkungsbereichs eines Oberzentrums liege. Der Gedanke ist gerade dann sachgerecht, wenn - wie im Fall des Landkreises Salzland - eine Auswahl unter mehreren „bisherigen Kreisstädten“ (erstes Kriterium) zu treffen ist.

{RN:81}
Dem kann die Beschwerdeführerin nicht mit Erfolg § 4 des Gesetzes über die Grundsätze für die Regelung der Stadt-Umland-Verhältnisse und die Neugliederung der Landkreise – Kommunalneugliederungs-Grundsätzegesetz (LSA-KomNeuglGrG) – vom 11.05.2005 (LSA-GVBl., S. 254, 601) entgegenhalten, wonach Schönebeck als Mittelzentrum von einer Eingemeindung nach Magdeburg ausgeschlossen ist; denn die Landesregierung weist zu Recht darauf hin, dass dies evtl. Teileingemeindungen in das Oberzentrum nicht ausschließen muss. § 4 LSA-KomNeuglGrG kann nach seinem Wortlaut und bei systematischer Auslegung nicht so verstanden werden, dass er bei Mittelzentren auch Maßnahmen nach § 3 LSA-KomNeuglGrG ausschließt. Insoweit ist unerheblich, dass sowohl zu Zeiten der Weimarer Republik als auch nach neueren Untersuchungen eine Ausdehnung Magdeburgs in Richtung auf Schönebeck nicht aktuell wahrscheinlich ist; denn der Gesetzgeber darf sich mit seinem „Negativ-Kriterium“ gleichsam den Weg für die Zukunft frei halten. Immerhin will die gegenwärtige Reform Zustände schaffen, die noch im Jahr 2015 Bestand haben sollen. Mit den von der Beschwerdeführerin in Anspruch genommenen Gutachten lässt sich jedenfalls nicht belegen, dass eine Ausdehnung Magdeburgs nach Süden auch im Jahr 2015 und danach völlig unrealistisch sein wird.

{RN:82}
Hiergegen versagt der Einwand der Beschwerdeführerin, die Grenzfrage sei nicht geeignet, das Ziel zu erreichen. Dafür ist nicht entscheidend, ob auch andere Gesichtspunkte den Ausschlag dafür geben könnten, dass die neue Kreisstadt nicht die notwendige Eigenständigkeit erreichen kann; dem Gesetzgeber muss immerhin zugestanden werden, er habe mit der Formulierung dieses Kriteriums den „krassesten Fall“ der unmittelbaren Grenznähe erfassen wollen.

{RN:83}
Für die Frage der Eignung des „Negativ-Kriteriums“ ist danach unerheblich, ob und inwieweit einerseits alle Ausstrahlungsfälle erfasst werden und andererseits konkret eine Verflechtung mit dem Oberzentrum besteht oder eine „bisherige Kreisstadt“ für ihr kleineres Kreisgebiet ein im Vergleich zum Oberzentrum eigenständiges Versorgungszentrum geworden war. Der Gesetzgeber darf bei Aufstellung seines Systems generalisieren.

{RN:84}
Die Formulierung des „Negativ-Kriteriums“ hält sich auch im Rahmen des gewählten Systems, weil hier ebenfalls ein Kriterium erarbeitet worden ist, dessen Voraussetzungen ohne weitere Bewertungen als gegeben oder nicht gegeben behandelt werden können. Diese Basis wäre verlassen worden, wenn der Gesetzgeber die von der Beschwerdeführerin gewollten weiteren Gesichtspunkte bewertend hätte berücksichtigen wollen.

{RN:85}
Das „Negativ-Kriterium“ ist - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin -nicht schon deshalb „willkürlich“ gewählt, weil es nur im Fall der Beschwerdeführerin ausschlaggebend zur Anwendung gelangt; denn entscheidend ist allein, dass es generell tauglich ist, den mit ihm verfolgten Zweck zu erreichen. Das ist zu bejahen, weil für die Anwendung ein sachgerechter Grund erkennbar ist (vgl. die Parallele im Fall Bitterfeld LVerfG LSA, Urt. v. 25.04.2007 - LVG 4/06 -, a. a. O., RdNr. 99).

{RN:86}
Das von der Beschwerdeführerin behauptete Motiv, das „Negativ-Kriterium“ habe allein den Zweck, Schönebeck als Kreisstadt zu verhindern, lässt sich nicht dadurch belegen, dass die Begründung für den ursprünglichen Referentenentwurf im späteren Regierungsentwurf ausgewechselt worden ist; denn beiden Rechtfertigungen ist die Absicht gemeinsam, eine Kreisstadt nicht in Grenznähe zu einer kreisfreien Stadt zu bestimmen.

{RN:87}
Die informelle Aussage des Ministerialdirigenten Dr. Klang belegt nicht, dass der Gesetzgeber mit dem sog. „Negativ-Kriterium“ ausschließlich das Ziel verfolgt hat, Schönebeck als Kreisstadt zu verhindern. Da es nicht auf interne Beratungen im Vorfeld des Gesetzentwurfes der Landesregierung ankommt, sondern allein auf die Vorstellungen des Gesetzgebers, hält es das Gericht weder für notwendig, den angehörten Abteilungsleiter des Ministeriums des Innern formell noch den damaligen Minister Jeziorsky selbst als Zeugen zu vernehmen. Die unterstellte Willkür lässt sich nicht durch Umstände belegen, die dem Ausschuss für Inneres oder dem Parlament zuzurechnen sind.

{RN:88}
Die Beschwerdeführerin zieht zu Unrecht Vergleiche einerseits mit Merseburg und andererseits mit Köthen.

{RN:89}
Beim neuen Landkreis Saalekreis weist die Landesregierung zu Recht darauf hin, dass Merseburg die einzige „bisherige Kreisstadt“ (erstes Kriterium) ist, die im Kreisgebiet liegt (zweites Kriterium), so dass keine Auswahl unter Konkurrentinnen für diesen Landkreis vorgenommen werden musste. Im Übrigen unterscheidet sich die Lage Merseburgs von Schönebeck dadurch, dass keine gemeinsame Grenze zum Oberzentrum besteht, mag auch ein Bebauungszusammenhang angenommen werden, der über die unabhängige Gemeinde Schkopau nur „vermittelt“ wird. Vergleichbar würden beide Situationen erst dann, wenn es zusätzlich oder ausschließlich auf Gesichtspunkte der Verflechtung oder der Entfernung ankäme, wovon die Beschwerdeführerin ausgeht. Das ist aber nicht der Fall.

{RN:90}
Ähnliche Erwägungen gelten für den Landkreis Anhalt-Bitterfeld. Alle „bisherigen Kreisstädte“ mögen relativ nahe am Oberzentrum Dessau liegen, keine von ihnen hat aber mit diesem eine gemeinsame Grenze.

{RN:91}
2.2.1.3. In Anwendung der Kriterien für die Kreissitzvergabe erfüllt nicht die Beschwerdeführerin, sondern die Stadt Bernburg die Voraussetzungen.

{RN:92}
Für das Ergebnis ist ohne Bedeutung, ob sich die Beschwerdeführerin schon deshalb gegenüber Bernburg hätte durchsetzen müssen, weil ihr als Mittelzentrum Teilfunktionen eines Oberzentrums in Zuordnung zu einem Oberzentrum zuerkannt worden sind (vgl. dazu LVerfG LSA, Urt. v. 25.04. 2007 - LVG 4/06 -, a. a. O., RdNrn. 89, 98 f.), oder ob sie jedenfalls über das Hilfskriterium der höheren Einwohnerzahl hätte berücksichtigt werden müssen; denn sie scheidet als Kreissitz in beiden Fällen bereits nach dem „Negativ-Kriterium“ aus.

{RN:93}
Unerheblich bleibt aus dem gleichen Grund die Rüge, die Kreissitzbestimmung für Bernburg verstoße gegen ein Vergabekriterium „Stärkung der Stärksten“; für dessen Bedeutung kann im Übrigen auf die Ausführungen im Parallelfall verwiesen werden (LVerfG LSA, a. a. O., RdNr. 103).

{RN:94}
Gleichfalls ohne Bedeutung bleibt der Vorwurf, es habe keine hinreichende Abwägung stattgefunden; denn die anzuwendenden Kriterien schließen eine solche wegen ihrer Enge bewusst aus.

{RN:95}
2.2.2. Das Ergebnis - die Kreissitzvergabe an die Stadt Bernburg - kann die Beschwerdeführerin nicht mit Hilfe von Bestandsschutz-Gesichtspunkten abwehren. Auch das hat das Landesverfassungsgericht im Parallelfall für den Landkreis Anhalt-Bitterfeld bereits entschieden (LVerfG LSA, a. a. O., RdNrn. 104 ff.).

{RN:96}
Im Fall der Beschwerdeführerin ist gleichfalls nicht sicher, dass Schönebeck nach den damaligen Kriterien von 1993 Kreissitz für ein Territorium geworden wäre, das dem heutigen Landkreis Salzland entspricht; denn die früher maßgeblichen Kriterien waren „weicher“ als die jetzigen, weil jene innerhalb ihrer Bindung eine Abwägung gestatteten, während diese ganz eng gefasst sind und eine Abwägung überflüssig machen.

{RN:97}
Dabei waren die Größe sowie die Wirtschaftskraft lediglich ein Kriterium unter mehreren, das nicht notwendig für ein bestimmtes Ergebnis in Anspruch genommen werden kann.

{RN:98}
2.2.3. Die Auswahl Bernburgs verstößt nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.

{RN:99}
Soweit die Beschwerdeführerin eine Ungleichbehandlung mit den Kreissitzen Merseburg und Köthen rügt, wird auf die Ausführungen im Abschn. 2.2.1.2. Bezug genommen.

{RN:100}
Soweit sie eine andere Behandlung als im Fall Halberstadts beanstandet, fehlt es an einer Vergleichbarkeit; denn der Beschwerdeführerin würde der Kreissitz auch dann nicht zuerkannt werden können, wenn Mittelzentren mit Teilfunktionen eines Oberzentrums in allen Varianten gleich behandelt werden müssten: Sie scheidet über das verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende „Negativ-Kriterium“ der gemeinsamen Grenze mit einem Oberzentrum in jedem Fall aus.


{RN:101}
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 32 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht vom 23.08.1993 (LSA-GVBl., S. 441), zuletzt geändert durch Gesetz vom 26.03.2004 (LSA-GVBl., S. 234).

{RN:102}
Gerichtskosten werden nicht erhoben (Absatz 1). Da die Beschwerde ohne Erfolg bleibt, kommt für die Beschwerdeführerin keine Erstattung außergerichtlicher Kosten in Betracht; besondere Umstände, welche eine Ausnahme rechtfertigen könnten, liegen nicht vor. Auch eine Erstattung von außergerichtlichen Kosten der Stadt Bernburg scheidet aus, weil sich deren Beteiligung auf eine Anhörung zum Begehren der Beschwerdeführerin beschränkt.
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Das Gericht

Der Sitz des Landesverfassungsgerichts ist Dessau-Roßlau.