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Urteil des Gerichtes

Entscheidungsvorblatt

Aktenzeichen: LVG 23/10 Entscheidungsart: Urteil Entscheidung vom: 09.10.2012
Verfahrensart Kommunalverfassungsbeschwerde
entscheidungserhebliche Vorschriften
Schlagworte
Stichworte Urteil
Leitsatz Ohne
Fundstellen -
Sonstiges -
Zitiervorschlag VerfGSA, Urteil vom 09.10.2012 - LVG 23/10 -,
www.verfassungsgericht-sachsen-anhalt.de

Urteil

in dem Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahren

LVG 23/10

09.10.2013

{T:w e g e n}

des Finanzausgleichsgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt



{T:Tenor}

§ 13 Abs. 2 Nr. 1 S. 4 des Finanzausgleichsgesetzes (FAG) vom 16. Dezember 2009 (GVBl. LSA S. 684), zu-letzt geändert durch Gesetz vom 21. Dezember 2011 (GVBl. LSA S. 870), ist mit Art. 87 Abs. 1 der Landesverfassung unvereinbar.

Dem Gesetzgeber wird aufgegeben, spätestens für das Ausgleichsjahr 2013 § 13 Abs. 2 Nr. 1 S. 4 FAG nach Maßgabe der Entscheidungsgründe neu zu regeln. § 13 Abs. 2 Nr. 1 S. 4 FAG ist bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung, längstens bis 31. Dezember 2012, weiter an-wendbar.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Das Land Sach-sen-Anhalt hat die außergerichtlichen Kosten der Be-schwerdeführerin zu erstatten.


{T:Tatbestand}

Die Beschwerdeführerin wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Rege-lung über die Gewichtung der Einwohnerzahlen zur Bestimmung der Bedarfsmesszahl (sog. „Einwohnerveredelung“), nach der für die kreisfreien Städte die allgemeinen Zu-weisungen zur Wahrnehmung der Aufgaben des eigenen Wirkungskreises und die In-vestitionspauschale nach dem Finanzausgleichsgesetz (FAG 2009) vom 16. Dezember 2009 (GVBl. LSA S. 684) verteilt werden.

Die Beschwerdeführerin hatte zum 31. Dezember 2009 87.764 Einwohner, die Lan-deshauptstadt Magdeburg 230.456 Einwohner und die Stadt Halle (Saale) 232.323 Einwohner.

Nachdem das Gemeindefinanzierungsgesetz 1993/1994 (GFG 1993/1994) vom 27. April 1993 noch eine Einwohnergewichtung von 100 v. H. für kreisfreie Städte bis zu 199.999 Einwohner und von 120 v. H. für Städte über 200.000 Einwohner vorgesehen hatte (Ziffer 2 der Anlage zu § 4 Abs. 3 GFG 1993/1994), sahen das Finanzaus-gleichsgesetz (FAG 1995) vom 31. Januar 1995 (GVBl. LSA S. 41), das Finanzaus-gleichsgesetz i. d. F. der Bekanntmachung vom 01. Juli 1999 (FAG 1999; GVBl. LSA S. 204) und die Neufassung des Finanzausgleichsgesetzes vom 14. Oktober 2005 (FAG 2005; GVBl. LSA S. 646) für die Bestimmung der Bedarfsmesszahl bei den all-gemeinen Zuweisungen des Landes für die kreisfreien Städte eine Vervielfältigung der Einwohnerzahl bis 149.999 Einwohner mit 100 v. H. und über 150.000 Einwohner mit einem Satz von 112 v. H. vor (Ziffer 2 der Anlage zu § 7 Abs. 2 FAG 1995; Ziffer 2 der Anlage zu § 7 Abs. 2 FAG 1999; Anlage zu § 7 Abs. 2 Nr. 1 FAG 2005).

Nach § 12 Abs. 1 S. 2 FAG 2009 erhalten die kreisfreien Städte für die Erledigung der Aufgaben des eigenen Wirkungskreises aus dem für allgemeine Zuweisungen bereit-gestellten Teil der Finanzausgleichsmasse Zuweisungen zur freien Verfügung. Die Zu-weisungen werden geleistet, wenn die Steuerkraftmesszahl oder die Umlagekraft-messzahl hinter der Bedarfsmesszahl zurückbleibt (§ 12 Abs. 2 S. 1 FAG 2009). Der Unterschiedsbetrag wird zu 70 v. H. ausgeglichen (§ 12 Abs. 2 S. 2 FAG 2009). Die Bedarfsmesszahl (§ 13 Abs. 1 FAG 2009) wird (u. a.) als sog. Hauptansatz (§ 13 Abs. 2 FAG 2009) nach Maßgabe der Einwohnerzahlen bestimmt, die mit dem Gemeinde-größenansatz zu vervielfältigen sind. Der Gemeindegrößenansatz beträgt für die kreis-freien Städte bis 150.000 Einwohner 100 v. H. und über 150.000 Einwohner 112 v. H. (§ 13 Abs. 2 Nr. 1 S. 4 FAG 2009). Nach § 16 Abs. 3 S. 2 FAG 2009 erfolgt die Vertei-lung der Mittel aus der Investitionspauschale jeweils proportional zur Höhe der allge-meinen Zuweisungen. Seit Inkrafttreten des Art. 1 Nr. 13 Buchst. b lit. a) des Gesetzes zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes und des Verbandsgemeindegesetzes (im Folgenden: FAGÄndG) vom 21. Dezember 2011 (GVBl LSA S. 870) zum 01. Januar 2012 (vgl. Art. 3 FAGÄndG) werden die Mittel aus der Investitionspauschale nach der nunmehr geltenden Fassung des § 16 Abs. 3 S. 2 FAG zu 75 v. H. nach der Einwoh-nerzahl und zu 25 v. H. nach der Fläche vergeben.

Mit der am 05. August 2010 erhobenen Verfassungsbeschwerde wendet sich die An-tragstellerin gegen die Ungleichbehandlung infolge der Einwohnergewichtung. Sie macht geltend, die Verfassungsbeschwerde sei zulässig, weil sie geltend machen kön-ne, durch die Einwohnergewichtung nach Maßgabe des § 13 Abs. 2 Nr. 1 S. 4 FAG 2009 unmittelbar und gegenwärtig in ihrem Selbstverwaltungsrecht (Art. 2 Abs. 3 und 87 LVerf) verletzt zu sein. Soweit eine Konkretisierung der Finanzausgleichsleistungen durch einen Verwaltungsakt des Landesverwaltungsamtes erfolge, handele es sich um eine bloße Ausführungsrechnung, die der Behörde keinen Spielraum eröffne. Der Zu-lässigkeit stehe auch nicht entgegen, dass die Verteilung der allgemeinen Zuweisun-gen unter Berücksichtigung der Einwohnergewichtung bereits in den vorher geltenden Fassungen des Finanzausgleichsgesetzes enthalten gewesen sei, weil nunmehr auch die Verteilung der Investitionspauschale nach der gewichteten Einwohnerzahl erfolge, so dass der Anteil der Antragstellerin an der den kreisfreien Städten zur Verfügung ge-stellten Pauschale von vormals 22,6 v. H. auf nunmehr 14,8 v. H. absinke. Die Belas-tungen durch die Anwendung der Einwohnergewichtung seien deshalb nunmehr höher als zuvor. Ungeachtet dessen bedürfe ein Maßstab, der von der Gleichwertigkeit aller Einwohner abweiche, einer besonderen Begründung und einer wiederkehrenden Überprüfung darauf, ob die Gründe für ihre Einführung weiter fortbestünden.

Die Verfassungsbeschwerde müsse auch in der Sache Erfolg haben. Das Selbstver-waltungsrecht umfasse auch einen Anspruch auf angemessene Finanzausstattung. Dieser sei darauf gerichtet, Finanzmittel unter den Kommunen gerecht zu verteilen. Bei der Einschätzung dessen, was gerecht sei, habe der Gesetzgeber einen Gestaltungs-spielraum, so dass die Überprüfung der Entscheidungen des Gesetzgebers auf eine Vertretbarkeitsprüfung beschränkt sei. Grenzen seien dem Gestaltungsspielraum durch das Willkürverbot als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und des Gebotes inter-kommunaler Gleichbehandlung gesetzt. Wenn der Gesetzgeber die Zuweisungen nach einem einfachen Einwohnerschlüssel verteile, müsse er diesen Maßstab, der von einer Gleichwertigkeit und Bedürfnisgleichheit aller Einwohner ausgehe, nicht gesondert be-gründen. Wenn der Gesetzgeber indes weitere Differenzierungen einführe, so bedürf-ten diese einer besonderen Rechtfertigung und müssten sich nach Maßgabe verlässli-cher und nachvollziehbarer Indikatoren als angemessen erweisen. Die Einwohnerge-wichtung nach Gemeindegrößenklassen beruhe bei den Vorgängerregelungen auf ei-ner Verständigung der drei kreisfreien Städte über die Gewichtung. Dies entbinde den Gesetzgeber indes nicht davon, eine eigenständige Bedarfsermittlung durchzuführen und dem Gebot der interkommunalen Gleichbehandlung Rechnung zu tragen, zumal der Gesetzgeber diese Einigung nach nunmehr 15 Jahren erneut übernehme, obwohl es Zweck der Neufassung gewesen sei, den Finanzausgleich stärker aufgaben- und ausgabenbezogen zu gewichten. Bestätigt werde dies durch ein Gutachten zum Fi-nanzausgleich in Brandenburg (Lenk/Hesse/Woitek, Finanzwissenschaftliches Gutach-ten zur Fortschreibung des kommunalen Finanzausgleichs in Brandenburg, März 2012, www.mdf.brandenburg.de), wonach bei nur vier kreisfreien Städten in Brandenburg trotz erheblicher Unterschiede in den Einwohnerzahlen keine belastbaren Erkenntnisse für eine unterschiedliche Finanzausstattung ersichtlich seien, so dass ein einheitlicher Einwohnerschlüssel verwendet werden müsse, um zu vermeiden, dass erst durch die mit einer Einwohnerveredelung verbundene Zuweisung eines höheren Mittelanteils an große Städte höhere Ausgaben induziert würden. Im Ansatz geteilt werde diese Auf-fassung auch in dem Gutachten von Deubel (Deubel, Der kommunale Finanzausgleich in Sachsen-Anhalt, 2012, http://www.sachsen-anhalt.de/index.php?id=55122), der zu-nächst zutreffend ausführe, dass bei der Anerkennung von Abweichungen von einem einheitlichen Bedarf je Einwohner darauf zu achten sei, dass die damit erreichbaren höheren Zuweisungen nicht zu einer Überschreitung der durchschnittlich notwendigen Kosten führe und deshalb für kreisangehörige Gemeinden und Landkreise jeweils ei-nen einheitlichen Bemessungsfaktor je Einwohner vorschlage. Ohne sachlichen Grund gebe der Gutachter für die kreisfreien Städte diesen zutreffenden methodischen Ansatz auf und komme unter Heranziehung der in den Finanzausgleichsgesetzen der Länder Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland und Thüringen vorgesehenen Spreizungen zwischen Städten mit einer Einwohnerzahl von 87.000 Einwohnern (wie bei Dessau-Roßlau) und 230.000 Einwohnern (wie in Magdeburg oder Halle) bei einem Mittelwert von 109 v. H. zu dem Ergebnis, dass sich der in Sachsen-Anhalt bestimmte Hauptansatz von 112 v. H. noch in einem üblichen Rahmen bewege. Der Vergleich mit anderen Bundesländern indes sei nicht aussagekräftig, weil die Aufgabenzuweisungen in den Bundesländern unter-schiedlich seien. So würden die Aufgaben des überörtlichen Sozialhilfeträgers z. T. durch die Länder selbst, z. T. durch Kommunalverbände wahrgenommen, die ihrerseits über kommunale Umlagen finanziert würden. Ebenfalls unterschiedlich seien die lan-desrechtlichen Regelungen hinsichtlich des Anteils an den Zuweisungen, die nach Maßgabe der Einwohnerveredelung verteilt würden. Auch hinsichtlich der Versor-gungsfunktion bestünden Unterschiede. So gebe es Länder, in denen die kreisfreien Städte eigenständige Verflechtungsbereiche aufwiesen, während etwa das Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen einen einheitlichen Siedlungsraum bilde.

Die Beschwerdeführerin beantragt,

§ 13 Abs. 2 Nr. 1 Satz 4 des Finanzausgleichsgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt vom 16. Dezember 2009 (GVBl. LSA S. 684) für unver-einbar mit der in Art. 2 Abs. 3 und Art. 87 Abs. 1 der Landesverfassung Sachsen-Anhalt garantierten kommunalen Selbstverwaltung zu erklären.

Die Landesregierung meint, die Verfassungsbeschwerde sei unzulässig, weil die Jah-resfrist nicht eingehalten sei. Die Jahresfrist sei durch das am 01. Januar 2010 in Kraft getretene Finanzausgleichsgesetz vom 16. Dezember 2009 nicht erneut in Lauf ge-setzt worden, weil die angefochtene Einwohnergewichtung bei der Bestimmung des Gemeindegrößenansatzes für kreisfreie Städte inhaltsgleich bereits in den Vorgänger-regelungen, namentlich in der Anlage zu § 7 Abs. 2 FAG 1999 und in der Anlage zu § 7 Abs. 2 Nr. 1 FAG 2005, enthalten gewesen sei. Dass der Schwellenwert aus Klarstel-lungsgründen von „bis 149.999 Einwohner“ in „bis 150.000 Einwohner“ geändert wor-den sei, habe den Regelungsgehalt unberührt gelassen.

Die Verfassungsbeschwerde könne auch in der Sache keinen Erfolg haben. In der Be-gründung des Gesetzentwurfs sei darauf hingewiesen worden, dass die Berücksichti-gung von Ballungskosten kontrovers diskutiert werde. Allgemein anerkannt indes sei, dass ein Ausgleich zentralörtlicher Belastungen notwendig sei. Die Vertreterin der Be-schwerdeführerin habe bei der Anhörung im Ausschuss für Inneres Einwände gegen die Einwohnergewichtung nicht erhoben. Der Gesetzgeber habe den Gesetzentwurf in-soweit unverändert übernommen und sich damit die dem Entwurf zugrunde liegende Einschätzung zu Eigen gemacht. Verlässlicher Kriterien für eine objektive Bestimmung des Finanzbedarfs der Gemeinden ermangele es. Zwar sei in der Kommunalwissen-schaft umstritten, ob die in den 30-er Jahren entwickelte Annahme, dass die Ausgaben von Städten mit zunehmender Einwohnerzahl überproportional anstiegen, nach wie vor Gültigkeit beanspruchen könne. Es sei indes nicht willkürlich, wenn sich der Gesetzge-ber nach wie vor davon leiten lasse. Das Maß der Gewichtung gehe zurück auf eine Einigung, die die drei kreisfreien Städte unter der Regie ihres kommunalen Spitzenver-bandes im Verlaufe der Beratungen über den Finanzausgleich im Jahre 1995 erzielt hätten und an der der Gesetzgeber nach erneuter Überprüfung auch im Jahr 2009 fest-gehalten habe. Abgesehen davon habe die Bedeutung der Gewichtung abgenommen, weil die Auftragskostenerstattung für die Wahrnehmung der Aufgaben des übertrage-nen Wirkungskreises nach § 4 FAG 2009 und für die besonderen Ergänzungszuwei-sungen nach den §§ 6 ff. FAG 2009 nach der ungewichteten Einwohnerzahl und für die besonderen Zuweisungen für die Aufgabenübertragung nach dem Ersten und Zweiten Funktionalreformgesetz nach ungewichteter Einwohnerzahl (zu 90 v. H.) und Fläche (zu 10 v. H.) erfolge. Da die Gewichtung ursprünglich auf einer Einigung der drei kreis-freien Städte beruht, der Gesetzgeber seither „die Höhe der Gewichtung praktisch hal-biert“ und die Beschwerdeführerin im Ausschuss für Inneres Einwände wegen der Ein-wohnergewichtung nicht erhoben habe, habe der Gesetzgeber unter Berücksichtigung des Standes der kommunalwissenschaftlichen Literatur keinen Anlass gehabt, weitere Erwägungen anzustellen, um die Angemessenheit der Gewichtung zu begründen.

Der Landtag von Sachsen-Anhalt hat keine Stellungnahme abgegeben.


{T:Entscheidungsgründe}

Die zulässige Kommunalverfassungsbeschwerde ist begründet.
{RN:1}
Das Landesverfassungsgericht ist zur Entscheidung über die kommunale Verfassungsbeschwerde berufen (vgl. dazu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: LVerfG, Urt. v. 31.05.1994 - LVG 2/93 - LVerfGE 2, 227, <245 f.>). Soweit eine Verletzung des durch Art. 2 Abs. 3 und 87 LVerf garantierten Selbstverwaltungsrechts behauptet wird, han-delt es sich um eine sog. kommunale Verfassungsbeschwerde im Sinne des Art. 75 Nr. 7 LVerf und der §§ 2 Nr. 8, 51 LVerfGG. Diese Bestimmungen berechtigen die Kom-munen, gegen Eingriffe in ihr Selbstverwaltungsrecht durch ein Landesgesetz das Lan-desverfassungsgericht anzurufen.
{RN:2}
Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Kommunalverfassungsbeschwerde nach den §§ 51 Abs. 2, 48 LVerfGG nur binnen eines Jahres seit Inkrafttreten des zur Überprüfung gestellten Landesgesetzes erhoben werden kann. Das Finanzausgleichs-gesetz (FAG 2009) vom 16. Dezember 2009 ist am 01. Januar 2010 in Kraft getreten (vgl. § 31 Satz 1 FAG 2009), so dass die am 05. August 2010 erhobene Verfassungs-beschwerde die Frist wahrt.
Entgegen der Auffassung der Landesregierung gilt im vorliegenden Falle Abweichen-des nicht deshalb, weil bereits die Bestimmungen im Finanzausgleichsgesetz i. d. F. der Bekanntmachung vom 14. Oktober 2005 (FAG 2005) die von der Beschwerdefüh-rerin nunmehr beanstandete Regelung über die Einwohnergewichtung als Maßstabs-element für die Bemessung der allgemeinen Zuweisungen vorgesehen hat.
{RN:3}
Zwar ist bei der Berechnung der Frist darauf abzustellen, ob die gerügte Belastung be-reits durch eine inhalts- oder wirkungsgleiche Vorgängervorschrift begründet worden ist. In diesem Fall kommt es für die Bemessung der Frist auf den Zeitpunkt der (mate-riellen) Vorbelastung an (LVerfG LSA, Urt. v. 12.07.2005 – LVG 4/04 – http.lverfg.justiz.sachsen-anhalt.de, Rdnr. 42 des Internetauftritts m. w. N.). Damit wird verhindert, dass bei einer Neufassung von Gesetzen auch solche Regelungen, die be-reits in einer vorausgehenden Fassung enthalten waren und den Beschwerdeführer in gleicher Weise belasteten, unter Bezugnahme auf die insoweit nur formale Änderung des Gesetzes zum Gegenstand eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens gemacht werden können, obwohl materiellrechtlich durch das Änderungsgesetz keine neue Be-lastung begründet worden ist (LVerfG LSA, a. a. O.).
Die angefochtene Regelung in § 13 Abs. 2 Nr. 1 S. 4 FAG 2009 ist mit den Vorgänger-regelungen in der Anlage zu § 7 Abs. 2 Nr. 1 FAG 2005 und der Ziffer 2 der Anlage zu § 7 Abs. 2 FAG 1999, bzw. der Ziffer 2 der Anlage zu § 7 Abs. 2 FAG 1995 nicht mate-riellrechtlich belastungsgleich. Während die von der Beschwerdeführerin beanstandete Einwohnergewichtung als Maßstabselement bisher nur für die Verteilung der allgemei-nen Zuweisungen Anwendung gefunden hat, werden nach dem Finanzausgleichsge-setz vom 16. Dezember 2009 nunmehr nicht allein die allgemeinen Zuweisungen i. S. d. §§ 12 Abs. 1 S. 1, 3 Nr. 4 Buchst. b FAG 2009 nach Maßgabe der Einwohnerge-wichtung verteilt, sondern auch die Investitionspauschale nach § 16 Abs. 1 FAG 2009. § 16 Abs. 3 S. 2 FAG 2009 bestimmt, dass die Verteilung der Mittel jeweils proportional zur Höhe der allgemeinen Zuweisungen erfolgt. Das bedeutet zwar nicht, dass ein et-waiger Rückgang des Anteils der Beschwerdeführerin an der Investitionspauschale al-lein auf die Einwohnergewichtung zurückzuführen sein muss. Die Einwohnergewich-tung ist bei der Bemessung der allgemeinen Zuweisungen nur ein Element zur Be-stimmung der Bedarfsmesszahl, die nach § 12 Abs. 2 S. 1 FAG 2009 ihrerseits noch mit der Steuerkraft- bzw. Umlagekraftmesszahl in Beziehung zu setzen ist. Gleichwohl findet die Einwohnergewichtung materiellrechtlich als ein maßstabsbildendes Element auch für die Verteilung eines weiteren Anteils an der gesamten Finanzausgleichsmas-se nach § 2 Abs. 1 FAG 2009 Anwendung.
Diese materiellrechtlich begründete mittelbare Erstreckung der Einwohnergewichtung über die allgemeinen Zuweisungen hinaus auf die Investitionspauschale genügt für die Annahme einer zusätzlichen Belastung. Nicht von Belang ist demgegenüber, ob die Neuregelung des Finanzausgleichs unter Berücksichtigung der weiteren Änderungen für die Beschwerdeführerin im Saldo (haushalts-)wirtschaftlich zu zusätzlichen Belas-tungen führt (vgl. LVerfG, Urt. v. 13.07.1999 – LVG 20/97 – Rdnr. 50 des Internetauf-tritts). Wenn das Landesverfassungsgericht bisher bei der Berechnung der Frist darauf abgestellt hat, ob die gerügte Belastung bereits durch eine inhalts- oder wirkungsglei-che Vorgängervorschrift begründet worden ist, so hat es diese Inhalts- und Wirkungs-gleichheit danach bestimmt, ob das geänderte Gesetz rechtlich eine neue Belastung begründet (LVerfG LSA, a. a. O.). Demgegenüber sind die tatsächlichen Auswirkun-gen einer Neuregelung für die Berechnung der Frist nicht maßgeblich, so dass dahin-gestellt bleiben kann, ob die Anwendung der Einwohnergewichtung noch in der glei-chen Weise (haushalts-)wirtschaftliche Belastungen der Beschwerdeführerin mit sich bringt wie die Vorgängerregelung, oder ob die Neuregelung mit der Verlagerung des Gewichts auf (zusätzliche) aufgabenbezogene Zuweisungen nach Maßgabe der §§ 5 bis 11 FAG 2009 zu einer Kompensation der für die Beschwerdeführerin nachteiligen Wirkungen der Einwohnergewichtung führt.
{RN:3}
Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht unzulässig geworden, weil § 16 Abs. 3 S. 2 FAG durch Art. 3 FAGÄndG mit Wirkung ab dem 01. Januar 2012 geändert und die Mittel nunmehr zu 75 v. H. nach der Einwohnerzahl und zu 25 v. H. nach der Fläche vergeben werden, so dass die Einwohnergewichtung für die Verteilung der Mittel aus der Investitionspauschale als maßstabsbildendes Element nicht mehr anwendbar ist. Das Land sorgt nach Art. 88 Abs. 1 LVerf dafür, dass die Kommunen über Finanzmittel verfügen, die zur angemessenen Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich sind. Hieraus folgt die Pflicht des Gesetzgebers, neuere Entwicklungen zu beobachten und regelmä-ßig zu überprüfen, ob die Grundlagen der Einschätzungen und Prognosen, die er der Gestaltung des Finanzausgleichs zugrunde gelegt hat, unverändert fortbestehen (VerfGH NW, Urt. v. 01.12.1998 – 5/97 – Rdnr. 39 <zitiert nach juris>). Macht eine Gemeinde – wie hier – mit der Verfassungsbeschwerde geltend, in ihrem Recht, ihre eigenen Angelegenheiten in eigener Verantwortung verwalten zu dürfen (Art. 87 Abs. 1 LVerf), verletzt zu sein, weil der Gesetzgeber einmal festgesetzte Werte oder einmal bestimmte Maßstäbe lediglich fortschreibt, ohne zu prüfen, ob neueren Entwicklungen mit geeigneten Maßnahmen Rechnung zu tragen ist, kann der Gemeinde nicht entge-gengehalten werden, sie habe sich gegen eine inhalts- oder wirkungsgleiche Vorgän-gervorschrift nicht zur Wehr gesetzt.
{RN:4}
Die Kommunalverfassungsbeschwerde ist begründet. § 13 Abs. 2 Nr. 1 S. 4 FAG verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Art. 87 Abs. 1 LVerf. Danach verwalten die Kommunen ihre Angelegenheiten im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung. Zum Selbstverwaltungsrecht der Kommunen gehört die eigenverant-wortliche Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft. Die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt enthält mit Art. 87 Abs. 3 LVerf einerseits und Art. 88 LVerf andererseits zwei selbständige Ausformungen der finanziellen Absicherung der Kommunen, kraft derer das Land zum einen Bestimmungen über die Deckung der Kosten treffen muss, die den Kommunen durch die Zuweisung von Pflichtaufgaben zur Erfüllung in eigener Ver-antwortung und durch die Übertragung von staatlichen Aufgaben zur Erfüllung nach Weisung entstehen. Zum anderen hat das Land dafür zu sorgen, dass die Kommunen über Finanzmittel verfügen, die zur angemessenen Erfüllung ihrer Aufgaben ausrei-chend sind. Dabei ist die unterschiedliche Finanzkraft der Kommunen auf Grund eines Gesetzes angemessen auszugleichen (Art. 88 Abs. 2 LVerf). Wie der kommunale Fi-nanzausgleich konkret ausgestaltet wird, unterliegt der Entscheidung des Landesge-setzgebers. Ihm steht dabei angesichts des Ineinandergreifens von landesrechtlichen und grundgesetzlichen Finanzausgleichsvorschriften, durch welche den Gemeinden unmittelbar Steuererträge zugewiesen werden, sowie der Einbindung des kommunalen Finanzausgleichs in die gesamte Haushaltswirtschaft und -planung des Landes ein weiter Gestaltungsspielraum zu (LVerfG, Urt. v. 16.02.2010 – LVG 9/08 – Rdnr. 6 des Internetauftritts). Es liegt in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu entscheiden, wie er den Finanzbedarf der Kommunen ermittelt und festlegt und wie er Differenzla-gen ausgleicht (VerfGH NW, Urt. v. 09.07.1998 – 16/96, 7/97 – Rdnr. 63 <zitiert nach juris>).
{RN:5}
Begrenzt ist dieser Gestaltungsspielraum durch das Rechtsstaatsprinzip, das als ein das verfassungsrechtliche Bild der Selbstbestimmung bestimmendes Element eben-falls zum Prüfungsmaßstab der Kommunalverfassungsbeschwerde gehört (LVerfG, Urt. v. 16.02.2010 – LVG 9/08 – Rdnr. 9 des Internetauftritts). Zu den Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips gehört das Willkürverbot, das ungeachtet der grundrechtli-chen Verbürgung durch Art. 3 Abs. 1 GG auch innerhalb des Staatsaufbaus Geltung beansprucht (BVerfG, Beschl. v. 05.10.1993 – 1 BvL 34/81 –, BVerfGE 89, 132 <141>). Es ist verletzt, wenn für die getroffene Regelung jeder sachliche Grund fehlt (vgl. VerfGH NW, Urt. v. 09.07.1998 – 16/96, 7/97 – Rdnr. 61 <zitiert nach juris>). Das Verfassungsgericht hat nicht zu prüfen, ob der Normgeber die bestmögliche oder ge-rechteste Lösung gewählt hat. Bedient sich der Gesetzgeber bestimmter Maßstäbe, nach denen der Finanzbedarf bemessen und der Ausgleich erfolgen soll, so dürfen diese nicht im Widerspruch zueinander stehen und nicht ohne einleuchtenden Grund verlassen werden (VerfGH NW, a. a. O.).
{RN:6}
Der Gesetzgeber hat für die allgemeinen Zuweisungen den Bedarf der Gemeinden nach § 13 Abs. 2 Nr. 1 S. 1 FAG 2009 nach einem Hauptansatz bestimmt, der sich aus einer Vervielfältigung der Einwohnerzahl mit dem Gemeindegrößenansatz ergibt. Der Gemeindegrößenansatz beträgt nach § 13 Abs. 2 Nr. 1 S. 4 FAG 2009 für die kreisfrei-en Städte bis 150.000 Einwohner 100 v. H. und über 150.000 Einwohner 112 v. H. Der gewählte Maßstab ist nicht tragfähig und daher willkürlich.
Diese Regelung geht zurück auf den Gesetzentwurf der Landesregierung (LT-Drs. 5/2018, S. 20), den sich der Gesetzgeber bei der Beschlussfassung – insoweit – zu Ei-gen gemacht hat. In der Einzelbegründung zum Gesetzentwurf ist zur Wahl des Maß-stabs ausgeführt, Ausgangspunkt der Bemessung sei die Einwohnerzahl. Wie in den meisten anderen Bundesländern werde die Einwohnerzahl um einen Bemessungsfak-tor ergänzt, um zu berücksichtigen, dass der verhältnismäßige Verwaltungsaufwand mit der Größe der Bevölkerungszahl überproportional ansteige (LT-Drs. 5/2018, S. 60). Zwar werde die Bedarfsrelevanz siedlungsstruktureller Besonderheiten, etwa von Bal-lungskosten, im kommunalen Finanzausgleich kontrovers diskutiert. Andrerseits sei die Notwendigkeit eines Ausgleichs zentralörtlicher Belastungen allgemein anerkannt, zu-mal zentrale Orte auch Leistungen für ihr Umland erbrächten (LT-Drs. 5/2018, S. 61).
{RN:7}
Die Annahme des Gesetzgebers geht zurück auf die sog. Popitz’sche These vom „ka-nalisierten“ (städtischen) Einwohner und dem von Brecht aufgrund statistischer Analy-sen aufgestellten „Gesetz von der progressiven Parallelität zwischen Ausgaben und Bevölkerungsmassierung“ (vgl. Brecht, Internationaler Vergleich der öffentlichen Aus-gaben, Leipzig u. a., 1932, S. 6) aus den 30-er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Popitz stellte auf der Grundlage der Ausgaben und des Finanzbedarfs der Städte und Gemeinden im Jahr 1928 die These auf, „dass durchschnittlich, je höher die Einwoh-nerzahl einer Gemeinde ist, desto höher der Bedarf ansteigt, und ferner die These, dass, obgleich auch mit der Einwohnerzahl die Einnahmen aus allgemeinen De-ckungsmitteln (Betriebseinnahmen und eigenen Steuern) ansteigen, trotzdem auch der Bedarf an Finanzzuweisungen zunimmt“ (Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwi-schen Reich, Ländern und Gemeinden, Berlin 1932, S. 266).
Die Erwägungen, die er zur Erklärung des mit steigender Einwohnerzahl überproporti-onal ansteigenden Bedarfs anstellt, sind überholt. Die Behauptungen, im ländlichen Siedlungsraum bestehe „kein Bedarf an gepflegten Wegen“, weil diese nur dazu dien-ten, die Einwohnerschaft zu einer landwirtschaftlichen Arbeit zu führen, „bei der sie oh-nehin keine Anforderungen auf Schutz gegen die Unbilden der Witterung zu stellen gewohnt sind“, während in Großstädten oder Industriegemeinden an eine Straße der Anspruch gestellt werde, „dass sie dem Einwohner in möglichst bequemer Form ges-tattet, die Entfernung zwischen seinem Wohnraum und der Arbeitsstätte zu überwin-den, und zwar so, dass auch bei schlechter Witterung keine zeitlichen Hemmungen und keine Nachteile entstehen“, so dass aus „dem Landweg, der zum Ackerland führt, (…) die gepflasterte, planmäßig entwässerte, gereinigte und beleuchtete Straße der Stadt“ werde (Popitz, a. a. O., S. 280), sind auf die heutigen Verhältnisse nicht über-tragbar und scheiden deshalb als Erklärungsversuch aus. Gleiches gilt für die Behaup-tung, an die Größe von Räumen in Schulen oder Rathäusern würden in Landgemein-den geringere Ansprüche gestellt als in Städten, weil die Bevölkerung auf dem Lande „aus der räumlichen Weite landwirtschaftlicher Arbeit, aus Luft und Licht“ komme, wäh-rend die Menschen in den Städten „aus engen Wohnverhältnissen“ kämen und nicht „das weite Gebiet des Landes zur Verfügung“ hätten; daher sei deren Bedarf „auf räumlich großzügig ausgestattete Schulräume“ ausgerichtet; ferner erwarteten sie „auch von den Rathäusern und Gemeindegebäuden etwas anderes, als die von ihrer ländlichen Betätigung kommenden Einwohner der Landgemeinden, die sich in den sel-tenen Fällen, in denen sie mit den Organen der Gemeinde zu tun haben, ohne Weite-res mit engen Räumen zufrieden“ gäben (Popitz, a. a. O., S. 281).
Indes sind nicht nur die ursprünglich herangezogenen Erklärungsversuche für die An-nahme, der Aufwand steige mit zunehmender Einwohnerzahl überproportional an, überholt und auf die heutigen Lebensverhältnisse nicht übertragbar. Gegen die Heran-ziehung der These eines mit steigender Einwohnerzahl überproportional ansteigenden Finanzbedarfs als Grund für eine Verteilung der Ausgleichsmasse nach Maßgabe einer Einwohnergewichtung spricht weiter, dass allein aus einem überproportionalen Anstieg der Ausgaben noch nicht auf einen überproportional ansteigenden Finanzbedarf ge-schlossen werden kann, weil höhere Ausgaben gerade das Ergebnis einer besseren Finanzausstattung sein können (vgl. BVerfG, Urt. v. 27.05.1992 – 2 BvF 1,2/88, u. a. –, BVerfGE 86, 148 <235>).
Sind somit die ursprünglich herangezogenen Erklärungsversuche für den festgestellten Befund, dass mit steigender Einwohnerzahl die Ausgaben überproportional ansteigen, untauglich, so genügt der Hinweis im Gesetzentwurf der Landesregierung, dass die Bedarfsrelevanz siedlungsstruktureller Besonderheiten, etwa von Ballungskosten, im kommunalen Finanzausgleich kontrovers diskutiert würden, andererseits allgemein an-erkannt sei, dass zentralörtliche Belastungen die Notwendigkeit eines Ausgleichs mit sich brächten, zumal zentrale Orte auch Leistungen für ihr Umland erbrächten (LT-Drs. 5/2018, S. 61), ebenfalls nicht, um im Land Sachsen-Anhalt für kreisfreie Städte mit mehr als 150.000 Einwohnern einen anderen Verteilungsmaßstab zu wählen als er für kreisfreie Städte mit weniger als 150.000 Einwohnern Anwendung finden soll. Zwar mögen Ballungskosten, die daraus herrühren, dass zentrale Orte auch Leistungen für ihr Umland erbringen, abstrakt generell betrachtet zu einem höheren Finanzbedarf füh-ren. Indes erhalten Städte mit einer höheren Einwohnerzahl auch bei Anwendung ei-nes ungewichteten Einwohnermaßstabes ohnehin höhere Anteile aus der Ausgleichs-masse zugewiesen als kleine Städte. Zudem ist zu berücksichtigen, dass höheren Kos-ten für die Inanspruchnahme städtischer Infrastruktur durch das Umland auch höhere Einnahmen mit sich bringen, weil die Bewohner des Umlandes die urbane Wirtschaft durch den Konsum von Gütern und Leistungen stärken, so dass dem Mehraufwand auch gegenläufige Impulse entgegenstehen (vgl. Korioth, LKV 1997, 385 <389>).
{RN:8}
Doch auch wenn man annehmen wollte, Ballungskosten stiegen mit steigender Ein-wohnerzahl überproportional an, lässt allein der Hinweis auf einen solchen allgemeinen Erfahrungssatz nicht erkennen, ob und inwieweit dies auf die Verhältnisse in Sachsen-Anhalt übertragbar ist. Weder aus der Begründung zum Gesetzentwurf noch sonst ist ersichtlich oder vorgetragen, weshalb die Notwendigkeit einer Einwohnergewichtung zum Ausgleich von Ballungskosten bei einer Einwohnerzahl von 150.000 einzusetzen hat. Auch wenn man davon ausgehen wollte, dass diese metrische Grenze für die Be-messung der Mittel für kreisfreie Städte allein dazu dient, die Städte Halle und Magde-burg mit 232.323, bzw. 230.456 Einwohnern auf der einen Seite von der Beschwerde-führerin mit nur 87.764 Einwohnern zu scheiden, so dass letztlich nicht die metrische Grenze von 150.000 Einwohnern, sondern angenommene unterschiedliche Finanzbe-darfe zwischen den erstgenannten großen kreisfreien Städten einerseits und der klei-neren Beschwerdeführerin andererseits der Grund für die unterschiedliche Einwohner-gewichtung sein soll, fehlt ein plausibler Nachweis dafür, dass die großen kreisfreien Städte gegenüber der Beschwerdeführerin einen überproportional höheren notwendi-gen Finanzbedarf haben.
{RN:9}
Die Ergebnisse der Untersuchung über die Verflechtungsbeziehungen der Oberzentren mit ihrem jeweiligen Umland (Turowski/Greiving, Untersuchung der Verflechtungsbe-ziehungen zwischen den kreisfreien Städten Magdeburg, Halle und Dessau und deren Umlandgemeinden, November 2001, www.mi.sachsen-anhalt.de) sind entgegen der Auffassung der Landesregierung nicht geeignet, die Annahme zu stützen, dass der Fi-nanzbedarf der Städte Halle und Magdeburg im Verhältnis zu dem der Stadt Dessau-Roßlau überproportional hoch ist. Zwar hat die anhand von Stadt-Umland-Wanderungen, Pendel-Wanderungen, ÖPNV-Anbindung, baulichem Zusammenhang, gemeinsamen Infrastruktureinrichtungen, konkurrierenden Einrichtungen und Angebo-ten, etc. vorgenommene Untersuchung über die Intensität der Verflechtung zwischen den jeweiligen Oberzentren und ihren Umlandgemeinden ergeben, dass die Landes-hauptstadt Magdeburg unter Berücksichtigung von 26 untersuchten Umlandgemeinden einen durchschnittlichen Verflechtungsgrad von 14,4 v. H. (vgl. Turowski/Greiving, a. a. O., S. 66), die Stadt Halle mit einem durchschnittlichen Verfechtungsgrad von 28,3 v. H. die intensivsten und großräumigsten Verflechtungen mit dem Umland (Tu-rowski/Greiving, a. a. O., S. 90) und die Stadt Dessau mit durchschnittlich 9,1 v. H. die geringste Verflechtungsdichte aller drei Räume aufweist (Turowski/Greiving, a. a. O., S. 142). Auch wenn man zudem mit in den Blick nimmt, dass von den drei mit Dessau am stärksten verflochtenen Gemeinden Roßlau (33,5 v. H.), Rodleben (28,4 v. H.) und Oranienbaum (28,1 v. H.) die Gemeinden Roßlau und Rodleben außer Betracht zu bleiben haben, weil sich diese Gemeinden im Juli 2007 zur Stadt Dessau-Roßlau zu-sammengeschlossen haben, so mag der ungleich höhere Verflechtungsgrad der Städ-te Halle und Magdeburg den Schluss tragen, dass das Umland die Einrichtungen in diesen Städten in ungleich höherem Maße in Anspruch nimmt, als dies bei der Be-schwerdeführerin der Fall ist. Wie bei den Ballungskosten im Allgemeinen trägt dies al-lein noch nicht den weiteren Schluss, dass die Verflechtung und die Nutzung städti-scher Einrichtungen durch die Bevölkerung des Umlandes zu einem überproportional steigenden Finanzbedarf führt, weil den Städten Halle und Magdeburg wegen der im Vergleich zu Dessau-Roßlau wesentlich höheren Einwohnerzahl auch bei Anwendung eines ungewichteten Einwohnermaßstabes jeweils ein höherer Anteil aus der Aus-gleichsmasse zustünde und weil dem Mehraufwand auch gegenläufige Impulse gege-nüberstehen (s. o.).
{RN:10}
Auch die Erwägungen von Deubel tragen die unterschiedliche Gewichtung der Ein-wohner von Halle und Magdeburg auf der einen Seite und Dessau-Roßlau auf der an-deren Seite durch § 13 Abs. 2 Nr. 1 S. 4 FAG nicht. Er führt zu den kreisangehörigen Gemeinden zutreffend aus, dass „Abweichungen vom Grundprinzip ‚ein Einwohner = eine Bedarfseinheit’ (…) theoretisch gut begründet und empirisch hinreichend belegt sein“ müssen und schlägt für kreisangehörige Gemeinden „mangels empirischer Fun-dierung“ eines höheren Bedarfs größerer kreisangehöriger Gemeinden einen einheitli-chen Bemessungsfaktor vor (Deubel, a. a. O., S. 155). Er stellt sodann fest, dass sich „die Bedarfsunterschiede zwischen den drei kreisfreien Städten nicht mit Hilfe statisti-scher Verfahren quantifizieren“ lassen (Deubel, a. a. O., S. 157). In Abkehr von dem für kreisangehörige Gemeinden gewählten methodischen Ansatz kommt er sodann unter Heranziehung der in den Finanzausgleichsgesetzen der Länder Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland und Thüringen vorgesehenen Spreizungen zwischen Städten mit einer Einwohnerzahl von 87.000 Einwohnern (wie bei Dessau-Roßlau) und 230.000 Einwohnern (wie in Magde-burg oder Halle) zu dem Ergebnis, dass sich der in Sachsen-Anhalt bestimmte Haupt-ansatz von 112 v. H. bei einem Mittelwert in den anderen Bundesländern von 109 v. H. „durchaus noch in einem üblichen Rahmen“ bewege (Deubel, a. a. O., S. 157). Der Vergleich mit der Rechtslage in anderen Bundesländern ist nicht aussagekräftig. Wenn die Gesetzgeber in anderen Bundesländern unter Heranziehung gutachterlicher Stel-lungnahmen (vgl. etwa VerfGH NW, Urt. v. 09.07.1998 – 16/96, 7/97 – Rdnr. 90) unter Berücksichtigung der jeweiligen länderspezifischen Aufgabenzuweisungen eine Ein-wohnergewichtung als sachlich begründet ansehen können, so lässt dies nicht den Schluss zu, dass diese Verhältnisse in anderen Bundesländern auf die Lage in Sach-sen-Anhalt übertragen werden können. So sind etwa in Nordrhein-Westfalen die Land-schaftsverbände überörtliche Träger der Sozialhilfe (§ 1 AG-SGB XII NRW), die von den kreisfreien Städten und Kreisen eine Umlage erheben, soweit ihre sonstigen Erträ-ge zur Deckung der Aufwendungen nicht ausreichen (vgl. § 22 Abs. 1 LVerbO NW), während in Sachsen-Anhalt die Aufgaben des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe vom Land wahrgenommen werden (vgl. § 2 Abs. 1 AG SGB XII).
{RN:11}
Schließlich rechtfertigt auch die von der Landesregierung im Verhandlungstermin am 16. Juli 2012 übergebene Aufstellung über „Ausgaben der kreisfreien Städte für aus-gewählte Pflichtaufgaben im eigenen Wirkungskreis“ in den Jahren 2008 bis 2010 kei-ne andere Betrachtungsweise. Als genügend aussagekräftiger Beleg für einen über-proportional hohen Finanzbedarf der beiden großen kreisfreien Städte scheidet diese Aufstellung bereits deshalb aus, weil sie Ausgaben nur für „ausgewählte“ Pflichtaufga-ben im eigenen Wirkungskreis darstellt und unklar geblieben ist, welche Kriterien für die „Auswahl“ herangezogen worden sind.
Auch ungeachtet dessen ist die Aufstellung nicht geeignet, die Annahme zu stützen, die kreisfreien Städte im Land Sachsen-Anhalt hätten mit wachsender Einwohnerzahl einen überproportional ansteigenden Finanzbedarf. So ist dem Zahlenwerk zu entneh-men, dass die Ausgaben je Einwohner für die Kinderbetreuung in Tageseinrichtungen in Dessau-Roßlau mit 190,70 € (im Jahr 2008), bzw. 201,05 € (im Jahr 2009) höher waren als in der Landeshauptstadt Magdeburg mit 171,82 € (im Jahr 2008) bzw. 188,41 € (im Jahr 2009). Entsprechendes gilt für den Aufwand für die Wahrnehmung der Aufgaben nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch. Auch hier lagen die Kosten je Einwohner mit 51,36 € (im Jahr 2008), bzw. 52,34 € (im Jahr 2009) in der Stadt Des-sau-Roßlau über dem Aufwand in der Landeshauptstadt Magdeburg mit 44,81 € (im Jahr 2008) und 48,24 € (im Jahr 2009). Zwar änderte sich dieses Bild im Jahr 2010 aufgrund des verhältnismäßig hohen Anstiegs der Gesamtausgaben für die Wahrneh-mung dieser Aufgaben in der Landeshauptstadt Magdeburg. Indes kann das Ausgabe-verhalten der drei kreisfreien Städte für diese Aufgabenbereiche als Stütze für die ge-nerelle Annahme, die Städte Halle und Magdeburg hätten im Verhältnis zur Beschwer-deführerin einen überproportional hohen Finanzbedarf, nicht herangezogen werden, weil jedenfalls in den Jahren 2008 und 2009 die nach ihrer Einwohnerzahl kleinere Stadt Dessau-Roßlau höhere Ausgaben für die Wahrnehmung der o. g. Aufgaben hatte als die Landeshauptstadt Magdeburg.
Bei den Ausgaben für die Wahrnehmung der Aufgaben des Brandschutzes lässt sich zwar für die Jahre 2008 bis 2010 jeweils feststellen, dass die Städte Halle und Magde-burg je Einwohner höhere Kopfbeträge aufgewandt haben als die Stadt Dessau-Roßlau. Indes spricht gegen einen Wirkungszusammenhang zwischen Einwohnerzahl und Aufwand, dass die Abweichung im Ausgabeverhalten zwischen den Städten Halle und Magdeburg in den Jahren 2008 und 2009 mit 24,60 €/Einwohner, bzw. 20,24 €/Einwohner signifikant größer ist als die zwischen der Stadt Halle und der Beschwer-deführerin (5,42 €/Einwohner im Jahr 2008 und 15,86 €/Einwohner im Jahr 2009), so dass diese Zahlen, unterstellt die Ausgaben seien geeigneter Indikator für den notwen-digen Finanzbedarf, eher dafür sprächen, zwischen der Landeshauptstadt Magdeburg auf der einen Seite und den Städten Halle und Dessau-Roßlau auf der anderen Seite zu differenzieren.
Ähnliches gilt für den Aufwand für die Wahrnehmung der Aufgaben nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch. Dabei ist von den Ausgaben der drei kreisfreien Städte für das Jahr 2010 das jeweilige Aufkommen aus den besonderen Ergänzungszuweisungen nach § 7 Abs. 1 FAG abzuziehen. Nach § 7 Abs. 1 FAG erhalten die kreisfreien Städte als Ausgleich der Zusatzbelastung bei der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Erwerbstätige nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch 28.363.498 € für das Jahr 2010 an Ergänzungszuweisungen, die nach § 7 Abs. 2 S. 1 FAG entsprechend dem Anteil an der Summe der Nettoausgaben der kreisfreien Städ-te der Jahresrechnungsstatistik des vorvergangenen Jahres verteilt werden. Zieht man demgemäß von dem Aufwand der Beschwerdeführerin im Jahr 2010 i. H. v. 29.160.616 € den Anteil von 13,9 v. H. aus den besonderen Ergänzungszuweisungen ab, so ergibt dies einen Betrag i. H. v. 287,34 €/Einwohner. Für die Stadt Halle ergibt sich bei einem Aufwand von 92.493.217 € und einem Anteil von 43,9 v. H. an den be-sonderen Ergänzungszuweisungen ein Betrag von 344,53 €/Einwohner. Bei der Lan-deshauptstadt Magdeburg errechnet sich bei einem Aufwand von 104.313.818 € und einem Anteil an den Ergänzungszuweisungen von 42,2 v. H. ein Betrag von 400,70 €/Einwohner. Zwar ist als Ergebnis feststellbar, dass die Beschwerdeführerin mit Kos-ten i. H. v. 287,34 €/Einwohner im Vergleich zu den Städten Halle und Magdeburg den geringsten Aufwand zu verzeichnen hat. Indes spricht auch hier gegen die Annahme eines mit steigender Einwohnerzahl überproportional ansteigenden Finanzbedarfs, dass der Aufwand je Einwohner bei der Beschwerdeführerin, der Stadt Halle und der Landeshauptstadt Magdeburg von 287,34 €/Einwohner (Dessau-Roßlau) über 344,53 €/Einwohner (Halle) bis zu 400,70 €/Einwohner (Magdeburg) annähernd linear an-steigt, obwohl die Städte Halle und Magdeburg nach Einwohnern annähernd die glei-che Größe aufweisen.
{RN:13}
Das Landesverfassungsgericht stellt gemäß den §§ 41 S. 1, 51 Abs. 2, 50 LVerfGG die Unvereinbarkeit des § 13 Abs. 2 Nr. 1 Satz 4 FAG mit der Landesverfassung fest und sieht davon ab, die Nichtigkeit der Verteilungsregelung festzustellen. Nach der Recht-sprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt eine Unvereinbarkeits- an Stelle ei-ner Nichtigkeitserklärung u. a. dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen (vgl. BVerfG, Urt. v. 28.04.1999 - 2 BvR 1926/96, 485/97 -, BVerfGE 100, 104 <136>). Diese Möglichkeit lässt das Landesverfassungsgerichtsgesetz mit seiner Wortwahl auch im Landesrecht zu. Der Landesgesetzgeber kann dem gesetzgeberischen Defizit in diesem Fall auf verschiedene Weise begegnen: Er kann eine einheitliche Einwohnergewichtung vorse-hen. Daneben steht es ihm frei, die Bedeutung der nach einer einheitlichen Einwoh-nergewichtung zu bemessenden Zuweisungen nach § 12 FAG durch die Einführung weiterer aufgabebezogener Ergänzungszuweisungen zu relativieren. Die Unvereinbar-keitsvariante zu wählen, erscheint auch deshalb angemessen, weil die Wirkungen des kommunalen Finanzausgleichs als Bestandteil der gesamten Finanzwirtschaft des Landes und der Kommunen auf Grund einer nachträglichen verfassungsgerichtlichen (Ergebnis-)Kontrolle rückwirkend praktisch nicht beseitigt werden können (ThürVerfGH, Urt. v. 21.06.2005 - VerfGH 28/03 -, Rdnr. 202 <zitiert nach juris>).
{RN:14}
Der Landesgesetzgeber ist gehalten, die unwirksame Verteilungsregelung mit Wirkung ab dem 01. Januar 2013 zu ändern. Das Gericht hält die Frist für angemessen und ausreichend, zumal die Landesregierung beabsichtigt, über die Einbringung eines Ge-setzentwurfs zur Neufassung des Finanzausgleichsgesetzes in den Landtag zu bera-ten.
{RN:15}
Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 32 Abs. 1 LVerfGG. Da sich die Verfassungsbe-schwerde als begründet erwiesen hat, erscheint es angemessen, der Beschwerdefüh-rerin die notwendigen Auslagen zu erstatten (§ 32 Abs. 3 LVerfGG).


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Das Gericht

Der Sitz des Landesverfassungsgerichts ist Dessau-Roßlau.